Jochen Rausch („Restlicht“, „Trieb“) schreibt in seinem neuen, phänomenalen Roman „Krieg“ über Sniper, Wahnsinnige, den Einbruch der Melancholie ins Leben und weshalb Henry David Thoreaus „Walden“ im Jahr 2013 eine Utopie geworden ist.
„In den Nächten hört er Schüsse, wenn es denn Schüsse sind. Manchmal hört er auch Schreie.“ – Der 50-jährige Lehrer Arnold ist aus der Zivilisation in eine abgelegene Berghütte gezogen, lediglich seinen Hund hat er mitgenommen, „ein schlecht erzogenes Tier. Ein Straßenköter. Eine Mischung von irgendwas mit einem Labrador. Vor fünf Jahren hat Karen ihn auf einem Rastplatz an der Autobahn aufgelesen.“ Karen, seine Frau, ist ebenso wenig auf diesem Berg wie Chris, ihr gemeinsamer Sohn, der als Soldat in den Afghanistankrieg gezogen ist.
Stand die 40-jährige Ich-Erzählerin in Marlen Haushofers „Die Wand“ noch fassungslos vor der unüberwindbaren Grenze, die sich urplötzlich zwischen ihrem Bergrefugium und der restliche Welt aufbaute, so hat Arnold seine Wand selbst hochgezogen. Er braucht wenig Geld, fährt alle vier Wochen ins Dorf, um 200 Euro abzuholen. Es ist ein Leben ohne Smartphone, Facebook, Twitter, SpiegelOnline-Eilmeldungen. In seiner Hütte steht ein Radio. Es wird ohnehin viel Radio gehört in diesem Roman des 1LIVE Wellenchefs Jochen Rausch.
„Das Radiohören lässt einen breiteren interpretatorischen Spielraum als das Fernsehen“, begründet der Autor „Er will sich distanzieren von dem Leben, das er bislang führte, er entdeckt das Radio ja erst richtig auf dem Berg. Auf deutsch: er ist ja in gewisser Weise altmodisch.“
Alles könnte einfach sein, entschlackt. Doch Arnolds Rückzugsort wird von Unbekannten ins Visier genommen – belagert, beschossen, bedroht. Etwas Apokalyptisches schleicht sich ein. Bei einem unvermittelten Einbruch wird das Inventar zerschlagen, Arnolds Radio zertrümmert, die letzte Verbindung zur Außenwelt. Der treue Hund liegt später blutend in der Kälte, absichtlich mit einem Bolzenschussgerät verletzt. Das Tier ringt fortan mit dem Tod.
Jochen Rausch: „In jedem Krieg schießen Fremde aufeinander, die im Frieden Freunde sein könnten. Der Einzelne hat kein Interesse am Krieg, der Einzelne kann Pazifist sein, ein Staat kann es nicht sein. Menschen werden zu Material, zu fremdbestimmten lebenden Waffen. Der Angriff aus dem Nichts macht uns Angst – weil er scheinbar unbegründet ist, weil er nichts mit uns persönlich zu tun hat – wie eben der Krieg.“
Es scheint eine düsteres Geheimnis in Arnolds Vergangenheit zu geben, blinde Flecken, in die erst langsam Einblicke gewährt wird, tote Winkel, die sich der Betrachtung entziehen, offene Fragen: Warum ist Arnold allein hier oben? Wieso hat er seinen Lehrerberuf an den Nagel gehängt? Wieso will er keinesfalls zurückkehren, vom Berg hinabsteigen, wie alle Eremiten, oder von Midlifecrisis geplagten, mit Burnout gepeinigten Männer seines Alters, die sich in Sabbaticals, Klostern, Schweige-Ashrams regenerieren?
Jochen Rausch: „Die Geschichte zeigt ja, dass man eigentlich nicht fliehen kann, dass man immer wieder von dem realen Leben eingeholt wird, wohin es einen auch verschlägt; trotzdem ist es ein Traum, der Rückzug in die Natur, der Rückzug von Kriegen und Menschen, die nerven – wie sagte Bukowski sinngemäß: Ich habe nichts gegen die Leute, ich habe sie nur nicht gerne um mich…“
„Krieg“ seziert auf mehreren Ebenen, wieso schon allein deshalb keine Freiheit am Hindukusch verteidigt werden kann, weil die Gegenwart jeden von uns gefesselt hält und keine Flucht in irgendeine Art von Freiheit möglich ist. Der Roman zeigt außerdem, weshalb es nichts gibt, was uns schützt, es sich weder lohnt zu fliehen, noch: an einem verlassen Ort unentdeckt zu verharren. Der Eremit wird sich selber fremd – und in „Krieg“ gibt es nur einen Ausweg, wieder Teil der Welt zu sein. Dass man dafür kein Mobiltelefon und keine Datenflat benötigt, ist dann längst klar.
Jochen Rausch: „Krieg“, Berlin Verlag, 224 Seiten, 18,99 Euro / Hörbuch, gelesen von Ulrich Noethen, Random House Audio, 5 CDs, Laufzeit: 6:04 Std, 19,99 Euro