Birgit Birnbacher, Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin des Jahres 2019, beobachtet in ihrem neuen Roman „Wovon wir leben“ verschiedene Formen von Arbeit und Arbeitslosigkeit, die unsere Gesellschaft momentan prägen.
Im Schweiße ihres Angesichts haben die Menschen über die Jahrtausende hinweg gearbeitet. Karl Marx galt die Arbeit als „Existenzbedingung des Menschen“. Vom bedingungslosen Grundeinkommen wusste er nichts, 180 Jahre vor unserer Zeit, die jetzt, 2023, immer dringlicher danach fragt, „wovon wir leben“. Unter diesem Titel erzählt Birgit Birnbacher die Geschichte einer individuellen Arbeitskrise. Die Krankenschwester Julia Noch wurde nach einem schwerwiegenden Fehler suspendiert. Mit dem Job verliert sie ihre Lebensgrundlage, ihr droht ein Berufsverbot. Selbst die Wohnung muss sie verlassen. Weshalb Julia notgedrungen ins heimatliche Hofmark zurückkehrt, einen kleinen, schattigen Eisenbahnerort im Salzburger Innergebirg. Beim Vater verkriecht sie sich. Dieser hat selbst seine Arbeit aufgegeben.
„Sein Ende mit der Firma führte der Vater dann aber selbst herbei, indem er im Zuge einer der vielen Einsparungsmaßnahmen, in einem Anfall von Existenzangst und Gier, einen, auf den ersten Blick verlockenden, Deal zur früheren Pensionierung annahm. Diesen Deal, der nichts anderes als das Loswerden zu teuer gewordener Arbeitskräfte war, fand er so verlockend, dass er für den Augenblick vergaß, was ein Arbeiter ohne seine Arbeit, was er ohne diese Firma war.“
Im Schatten der Bedeutung
„Wovon wir leben“ begleitet Julia Noch über die Dauer von neun Monaten. Daheim gerät sie in ein abgehängtes Milieu, das im Schatten des 2100 Meter hohen Heukareks lebt, im Schatten politischer Beobachtung, im Schatten des tätigen Lebens und so versucht sie, mehr schlecht als recht, die Tage rumzukriegen. Einstweilen wird es Mittag, die schwierigste Stunde für Arbeitslose.
„Diese Männer, die nun bereits seit Wochen in ihren Häusern sitzen und in der Mitte des Vormittags innehalten, wenn das Bett gemacht und der Frühstücktisch abgeräumt ist, wenn der Boden gefegt und die Post geholt und der Einkauf gemacht ist, haben keine Festung. Diese Männer, die um zehn Uhr vormittags mit der Arbeit des Tages fertig sind, haben kein Werkzeug in der Hand, aber träumen nachts noch von ihren Maschinen, mit denen sie verwachsen waren wie mit Geliebten, während ihre Ehen kinderlos geschieden oder früh verwitwet endeten.“
Julia ist eine von zwei Figuren, die sich aus dieser untätigen Ohnmacht lösen wollen. Ihre Mutter ist, obschon 62 Jahre alt, nach Italien gezogen, dorthin, wo die Zitronen blühen, um sich mittels Umschulung noch spät zur Eisenbahnerin ausbilden zu lassen. Julia, als Krankenschwester gewohnt, Menschen, in schweren Lebenslagen beizustehen, hilft unterdies, wo sie kann, hält jedoch einen gebotenen Sicherheitsabstand, lässt sich nicht rein-, lässt sich nicht runterziehen. Mit ihren 37 Jahren ist Julia jünger und beweglicher als jene Übriggebliebenen, die abends zum Watten in der Schenke einkehren, wo das Kartenspiel die einzig ernsthafte Beschäftigung des Tages darstellt.
„Der eine ist der Schreiber, ‚erste Pressmaschine’, der mich nicht mehr erkennt. ‚Der Schreiber’, sage ich und deute auf den Linken, ‚spielt mit dem Gruber gegenüber. Der Gruber ist der Dünne mit der Lesebrille, der schreibt. Die Lesebrille ist, wie alles, was die tun, nur Täuschung. Die braucht er für die Karten ja nicht. Die hat er auf, weil er damit dem Schreiber bedeutet, welche Karten er hat. Nach oben für Ober, nach unten für Unter, Augenbrauenheben für Trumpf, sowas in der Art. Jeder hat so seine Codes, und die wechseln natürlich.’“
Suppeessen als Auftrag
Tätig versus untätig ist wiederum der Code, mit dem dieser Roman seine Geschichte beobachtet. So stringent ist „Wovon wir leben“ gebaut, dass nach einiger Zeit alles unter einer Arbeitshinsicht erscheint. Selbst das Essen der Suppe wird beschrieben als „Auftrag, den es abzuarbeiten gilt.“ Und so wird mehr und mehr deutlich, dass dieser Text ein soziologisches Anliegen hat. Der Roman poetisiert Theorien, die sich deutlich von marxistischen Definitionen abheben.
Insbesondere die Schriften der österreichischen Sozialpsychologin Marie Jahoda haben das Manuskript inspiriert. Jahoda hat seit den 1930er Arbeit auch unabhängig von ökonomischen Umständen definieret, beispielsweise als Möglichkeit, sich als Wesen zu erleben, das in kollektive Ziele eingebunden ist. Arbeit war in ihrer Beobachtung auch ein Angebot zur persönlichen Horizonterweiterung, eine Chance, den eigenen Status zu erhöhen. Doch wie geht es Arbeitern ohne Arbeit? Insbesondere solchen, die nicht arbeiten können wie Julias Bruder, der nach einer Hirnhautentzündung in der Kindheit pflegebedürftig ist. Welchen Status hat er? In welche kollektiven Ziele ist er eingebunden? Welche persönliche Horizonterweiterung wird ihm in pflegerischer Obhut angeboten?
„Sein ganzes Zimmer hat etwas Gewolltes, etwas Auferlegtes. So hat sich jemand Behaglichkeit vorgestellt, dabei aber übersehen, dass mit jeder Papiersonne die Trostlosigkeit nur noch größer wird. Zwischen all diesen bunten Polstern und gelben Sonnen und den Sternenvorhängen sitzt David da wie ein lebloser Teddy, der hinaus in diese nachgebaute Welt schaut, auf den Nachbausee und das Nachbauschloss.“
Als sei dieser Bruder ein Teddy, höchstens zum Spielen geeignet wie das Kartendeck am Dorf-Stammtisch, gefangen in einer Wirklichkeitssimulation. „Wovon wir leben“ literarisiert gekonnt die beklagenswerte Tristesse des Untätigen. Ein inneres, aus Querstreben montiertes Erzählgerüst gibt dieser Geschichte Halt und Gestalt. Pergamenten, geradezu mürbe erscheint Birnbachers Schreibweise, die fern an alte Edition-Suhrkamp-Bände aus den 1980er Jahre erinnert. Bemerkenswert ist die Unaufgeregtheit des Tons, die Professionalität ihrer Textarbeit, wie nach höchsten ISO-Standards verfertigt. Hier sitzt jeder Satz, hier passen die Bilder lotrecht zusammen. Wer billig kauft, zahlt zweimal, sagt man. Deshalb lieber gleich zu Birnbacher gehen. Die poetische Rendite übersteigt den Ladenpreis um ein Vielfaches.
Birgit Birnbacher: „Wovon wir leben“, Zsolnay, Wien, 192 Seiten, 24 Euro