Auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis hat es der Debütroman von Eckhart Nickel geschafft; auf der Shortlist aber wird er vermisst. Das ist ein Fehler.
“Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht.” – So beginnt der unheimliche Cursus in Eckhard Nickels „Hysteria“-Roman, in der ein Mann, Bergheim heißt er (beinahe wie der Berliner Techno-Club) durch eine dystopische Gegenwart der Allsimulationen zieht. Mit den Himbeeren stimmt etwas nicht, sie sind anders als gewohnt, nicht blass-bläulich, nein, die hier „leuchteten in schwärzlichem Purpur, was den Früchten etwas entschieden Jenseitiges gab.“
Mit dieser Einstiegsszene gewann Eckhart Nickel im vergangenen Jahr den Kelag-Preis beim Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt, und obschon das Jenseits im ersten Absatz überdeutlich anklingt, ahnte niemand, dass der Beginn einer Unter- oder Parallelweltreise inszeniert wird, einer Reise, die dunkel schillernd die Sehnsuchtsphantasien des momentanen Bio-Links-Milieus in eine dystopische „Hysteria“-Zukunft extrapoliert.
Als Bergheim gewahr wird, dass die vermeintlichen Früchte lediglich Kunstprodukte sind recherchiert er jenem Phänomen nach, das ihn in ein Blaise Pascal’sches „Erschrecken“ versetzt hat: „Nahrung darf sich der Mensch nur noch aus Resten zusammensuchen, die Pflanzen abgestoßen haben und keine Verbindung mehr zu ihrem Organismus besitzen: Fallobst, von den Knospen gelöste Blüten, Gemüse, das lose auf Feldern liegt, Streugut, lose Blätter.“
In diesem Roman schafft sich die Zivilisation aus Selbst-Hass ab, sie gibt sich schlechterdings auf. Bergheim besucht die Produktionsstätte der Beeren, er lernt jene „Dermoplastiker“ genannten Forscher kennen, die alles, was einst Natur gewesen war originalgetreu nachbilden, er dringt immer tiefer ein ins Hyperreale, das wirkt wie ein Alptraum, den Jean Baudrillard, die Wachowski-Geschwister und Henry David Thoreau in apokalyptischer „Inception“-Manier miteinander teilen.
In „Hysteria“ befinden wir uns in einer post-materialistischen Welt des sogenannten spurenlosen Lebens, wo allein die Öko-Religion wirkt, die wie so viele Glaubensrichtungen ins Radikal-Absurde gefallen ist. „Zunächst waren es nur zehn Gesetze gewesen, die ihren Weg aus der Hochschule in die Öffentlichkeit gefunden hatten, angelehnt an die biblischen Gebote.“ Die Gebote besagen, dass der Mensch kein Recht mehr hat, die Natur zu nutzen, wie es im Paradies bestimmt worden ist, wir sind nicht mehr die Krone der Schöpfung, kein Tier darf dem Homo sapiens Untertan sein, die Städte sollen verschwinden, wir fallen zurück in einen Vor-Kainidischen Zustand knapp hinterm Sündenfall.
Auf der reinen Oberfläche bearbeitet Nickel die Schlagworte unserer Zeit, in der schon jetzt der Spießer keinen dicken Benz, sondern ein schickes Retro-Fahrrad besitzt. Was 2018 noch firmiert unter dem wertfreien Schlagwort des Anthropozäns wird in „Hystria“ zum Self-Punishment der gesamten Zivilisation. Der Mensch ist in diesem Roman kein Wesen mehr, das im Sinne Søren Kierkegaard deshalb groß ist, weil es im Elendigen verhaftet ist. Hier ist das, was uns ausmacht, verdammenswert: „Nach der Jahrtausende währenden Unterwerfung der Natur durch den Menschen, die fast in ihrer völligen Zerstörung gipfelte, verpflichtet sich die Menschheit, Zug um Zug sämtliche Eingriffe in das natürliche Leben zurückzunehmen und für immer zu beenden.“
Es war Michel Houllebecq, der als einer der ersten Neo-Dekadenz-Schriftsteller Roman für Roman beschrieben hat, in welcher Weise die Abschaffung des Menschen eben nicht funktionieren wird, weil dämonische Gentechniker oder Islamisten mit Gewalt unsere westliche Welt überrennen – nein, die Bedingungen unseres Zerfalls stecken tief in der gesellschaftlichen DNA unseres Lifestyles, wir selbst werden uns überflüssig machen, wir selbst werden alles, was unser Schlimm-Schönes Sein ausmacht eliminieren. Nickel denkt diesen Ansatz radikal weiter und man spoilert diesen brillanten Roman nicht, wenn man verrät: Es wird ähnlich enden wie Francis Ford Coppolas „Apocalpyse Now“ – nur braucht es dafür nicht einmal ein Vietnam.
Eckhart Nickel: „Hysteria“, Piper, München, 240 Seiten, 22 Euro