Der Schriftsteller Heinrich Steinfest, 1961 in Australien geboren, hat eine echte Genrewandlung durchgemacht. Er wanderte mit seinen Büchern durch die Verlagswelt, erschien sowohl bei Bastei Lübbe als auch immer wieder im Piper-Verlag. Mitte der 1990er Jahre startete er mit surrealen Science-Fiction Geschichten, und schrieb später Krimis, die mehrfach ausgezeichnet worden sind. Nun, zu seinem 60. Geburtstag, wagt er sich an eine mustergültige Prosagattung.
Mit einem unheimlichen Bild beginnt diese Amsterdamer Novelle, die in ihrem Verlauf von vielen weiteren Unheimlichkeiten erzählen wird. Ein Handyfoto bekommt der 56-jährigen Roy Paulsen vorgelegt, das ihn angeblich radfahrend, in Amsterdam zeigt, obwohl er nie in den Niederlanden gewesen ist. Zwar war er „einige Male in Belgien, in Brüssel, ja, mit einem Fernsehteam auch in Luxemburg, aber eben nie in Holland und nie in Hollands Hauptstadt.”
Dorthin ist Paulsens Sohn Tom gezogen, um für eine Computerspielfirma ein Actiongame zu entwickeln, „in dem Rembrandt van Rijn als Zeitreisender auftritt, der – durch eines seiner eigenen Bilder fallend – ins 21. Jahrhundert gerät und verschiedene künstlerische wie anderweitige Versuche unternimmt, um zurück in seine Epoche zu gelangen, immerhin das goldene Zeitalter der Niederlande“.
Auf seiner Suche nach geeigneten Spielorten hat Tom auch das besagte Foto geschossen und nun insistiert er gegenüber dem Vater: “Das ist deine Kopfform, deine Glatze, dein Profil, das ist so unverkennbar deine Nase. Auch die Brille stimmt. Das sind sogar deine Beine.” Zugleich könnten es auch Kopfform, Glatze und Brille von Heinrich Steinfest sein – deutlich wurde die Physiognomie dieses Helden nach seinem Autor gestaltet. „Es war wirklich sein Profil, seine Nase mit der leichten Übergröße, sein nur leicht bebartetes breites Kinn, seine volle Wange, sein im Umfeld der Glatze und des sehr kurz geschorenen Haarkranzes äußerst prägnantes linkes Ohr.“
Dieses Foto ist für Roy Paulsen ein Rätsel, eine Störung seines beschaulichen Lebens, in das endlich Ruhe eingekehrt ist nach drei gescheiterten Ehen. Paulsen arbeitet als Visagist beim WDR-Fernsehen in Köln, wo er versucht, seine Schminkkünste lediglich dezent einzusetzen. Paulsen ist kein Manipulator, sondern ein Mann, in dem Realitätshunger wirkt, eine Sehnsucht nach größtmöglicher Klarheit. Weil er sich nun über das besagte Foto klarwerden will, fährt er nach Amsterdam, mietet sich in einem nach Rembrandt benanntem „Bed & Breakfast“ ein, sucht das ehemalige Kaufmannshaus, vor dem möglicherweise er oder zumindest ein Doppelgänger seiner selbst abgelichtet worden ist. Paulsen irrt durch die Stadt bis er dieses Kaufmannshaus endlich gefunden hat: “Neben dem Eingang war ein Messingschild montiert, das eine Rechtsanwaltskanzlei auswies: Van Dongen Advocaten Amsterdam. Darunter eine Gegensprechanlage, deren vier Knöpfe dazu dienten, den privaten Bereich der Familie van Dongen vom Bereich der gleichnamigen Rechtsanwaltskanzlei zu trennen.“
Bevor der blutige Wendepunkt eintritt, ist bereits klar, dass diese „Amsterdamer Novelle“ auf geschickte Weise mit ihren Motiven spielt: mit Smartphones, Computergames und Fotografien, mit täuschenden Werbekampagnen, Trickfilmen und Bildbearbeitungsprogrammen. Ein schönes Beispiel ist die Kanzlei „Van Dongen“ selbst, deren Namen nicht enträtselt wird, doch zumindest Kunstinteressierte an den niederländischen Maler Kees van Dongen erinnern dürfte, der 1927 ein Buch über jenen Rembrandt geschrieben hat, der im Zeitreisen-Computerspiel durchs 21. Jahrhundert hetzt. Das Spiel mit Zeit ist auf der Konstruktionsebene dieser Novelle bemerkenswert – und wird bedeutsam bei der Klärung jener ungeheuerlichen Ereignisse, die sich im alten Kaufmannshaus abspielen, nachdem Paulsen eingetreten ist. „Was er zuerst sah, war ein Mann. Ein auf einem Stuhl sitzender Mann, dem das Blut aus Mund und Nase und aus den Wunden in seinem Gesicht hinunter auf sein weißes Hemd und den hellgrauen Anzug tropfte. Er war nicht gefesselt, hatte die Hände fest gegen die Oberschenkel gestützt, schien sich aber kaum noch aufrecht halten zu können. Doch er kämpfte um dieses Aufrechtbleiben, als würde ein Umkippen dazu führen, nie wieder aufstehen zu können.“
Jeder weitere Handlungsüberblick würde die Lektürefreude zerstören, doch kann gesagt werden, dass die Fotografie, das Computerspiel und der Realitätshunger von Roy Paulsen auf eine Weise verbunden werden, die an Science-Fiction-Klassiker wie Robert A. Heinleins „Entführung in die Zukunft“ erinnern oder an Filme des Star-Regisseurs Christopher Nolan wie „Tenet“, „Inception“, „Prestige“.
Und dann gibt es noch einen anderen, den französischen Symbolismus prägenden Text, der wie eine Folie wirkt, den man zwar nicht vor, aber vielleicht nach Steinfests Novelle lesen sollte: George Rodenbachs „Das tote Brügge“ von 1892. Bei Rodenbach wie bei Steinfest werden eine ehemals prosperierende Handelsstadt inszeniert, in Belgien war Roy Paulsen immerhin schon – und hier wie da spielen Fotografien eine besondere Rolle, werden eingesetzt, um den Leser künstlerisch zu manipulieren.
„Ich bin noch nie auf einem Rad gesessen, wirklich!“ Auch das sagt Paulsen – und lügt auf eine Weise, deren Rätselhaftigkeit über vier Fünftel des Textes hinweg trägt. Nur auf den letzten zwanzig Seiten ächzt die „Amsterdamer Novelle“ unter ihrer kathedralen Architektur, erscheint selbst in einer phantastischen Lesart unplausibel und verlässt ihren hoch angesetzten „bel parlare“-Ton, beispielsweise wenn die Dämmerung im Raum liegt, „wie ein gebratenes Steak, aus dem noch ein klein wenig Blut sickerte, sowenig das wirklich Blut ist bei einem Steak, sondern ein Protein des Muskelfleischs. Eine Täuschung.“
Ungenauigkeiten wie diese stören den minutiösen Stil- und Konstruktionswillen der vorherigen Kapitel, weshalb diese von verschiedenen Täuschungen und Vertauschungen erzählende Geschichte doch keine Großmagie ist, wie es der vielversprechende Anfang vermuten lässt, sondern eher ein Hütchenspiel, wenngleich eines, das all jene fesseln wird, die sich freudig von rotierenden Becherchen übers Ohr hauen lassen.
Heinrich Steinfest: „Amsterdamer Novelle“, Piper, München, 108 Seiten, 16 Euro