Im Jahr 2015 ist der Terror wieder allgegenwärtig. Am 7. Januar stürmen zwei maskierte Männer das Redaktionsbüro des Satiremagazins Charlie Hebdo in Paris und erschießen 12 Menschen. Am gleichen Tag verübt die islamistische Terrororganisation Boko Haram im nigerianischen Baga ein Massaker. Die BBC spricht von bis zu 2.000 Todesopfern.
In Frankreich wird unmittelbar nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo der Schriftsteller Michel Houellebecq und sein aktueller Roman „Unterwerfung“ der Mitschuld bezichtigt. In der Geschichte halluziniert Houellebecq eine islamische Machtübernahme des einst säkularisierten Frankreichs. Doch obwohl in „Unterwerfung“ Terror thematisiert wird, kann der Autor in keiner Sekunde für haftbar gemacht werden. Oder doch?
Es gibt eine über lange Verbindung von Terrorismus und Literatur, die auffällig wird in drei Büchern, die gerade erscheinen: die literaturwissenschaftliche Studie „Poetik des Terrors – Politisch motivierte Gewalt in der deutschen Gegenwartsliteratur“ von Dr. Michael König, der Aufsehen erregende Roman „Die Erfindung der RAF durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969“ von Frank Witzel, und ein Essay aus „Montaignes Turm“, dem neuen, uneingeschränkt ans Herz zu legenden Sammelband von Uwe Timm, der am 30. März seinen 75. Geburtstag feiert.
Diese Verbindung von Terror und Kunst ist nichts Neues. Der Literaturwissenschaftler Thomas Hecken schreibt in seinem 2006 erschienen Buch „Avantgarde und Terrorismus“ über die Kriegsverherrlichung des Futurismus und über die Terroranleihen des Dadaismus. Es kann nachgewiesen werden, dass damals künstlerisch entwickelte Inszenierungsstrategien Jahre später von Terrororganisationen kopiert werden.
Ulrike Draesner, Autorin des Romans „Spiele“ von 2005 über den Anschlag auf die israelische Nationalmannschaft bei den Olympischen Spielen 1972 sagt im Interview: „Die Literatur und der Terrorismus, so wie er ’72 anfängt, sich darzubieten, sind verschränkt über ihre Medialität. Es gibt in ‚Spiele‘ einen Satz, der mehrfach wiederkommt. Der heißt eigentlich ‚Phantasie ist eine der schlimmsten Möglichkeiten des Terrorismus‘. Kluges, strategisches Denken. Aber dieser Satz lässt sich umdrehen: „Terror ist eine der schlimmsten Möglichkeiten der Phantasie.“ Er kommt also aus dem Vermögen, in den berühmten musilschen Möglichkeitsräumen zu denken, sich fiktive Szenarien auszudenken, jenem Vermögen, aus dem auch das Erfinden von Fiktion, das Schreiben von Romanen resultiert.“
Die drei Neuerscheinungen von Uwe Timm, Michael König und Frank Witzel stehen, hierin auch Ulrike Draesner folgend, für verschiedene Ansätze, den Terror intellektuell zu verstehen. König erwähnt in seinem Band den amerikanische Literaturprofessor Anthony Kubiak, der drei Arten von Terrorismus-Erzählungen unterscheidet. Dies sind erstens Texte der Terroristen selbst. Das können Schriften von al-Qaida, Baader-Meinhof oder der palästinensischen Fatah sein. Zweitens gibt es laut Kubiak Erzählungen und Studien über Terrorismus, wie Uwe Timms Romane „Heißer Sommer“ und „Rot“ oder auch ein Essay aus „Montaignes Turm“, in dem der Autor vom Terror Boko Harams berichtet. Auch Königs Buch würde Kubiak zur zweiteren Einordnung stellen.
Besonders interessant ist jene dritte Art terroristischer Erzählungen, die bereits auf der Sprach- oder Handlungsebene terroristisch ist, indem sie Konventionen des Sprechens und Erzählens zerstört. Zu dieser Variante gehört der Roman des 1955 geborenen Frank Witzel. Der Robert-Gernhard-Preisträger erzählt anspielungsreich von einem manisch-depressiven Jungen, der sich einbildet, eine terroristische Vereinigung gegründet zu haben, ein Jahr vor der RAF, eine Ur-RAF sozusagen. Dieser Kniff kommt Thomas Brussigs „Helden wie wir“ von 1995 nahe, in dem sich ein Ost-Teenager für die Wiedervereinigung verantwortlich macht. Er will allein die Berliner Mauer durchbrochen haben – mit seinem exorbitant großen Penis. Doch ist Witzels Geschichte, anders als die von Brussig, nicht linear erzählt, sondern wird gestört durch wissenschaftliche Pseudo-Traktate, popkulturelle Anekdoten, phantastischen Mythen, endlosen Listen und extra schlimmen Protestgedichten: „Der Baader kam gefahren/Mit einem LKW/Er wollt die Meinhof fangen/Denn die war eine Fee.“ Indem Witzel auf 800 gewaltigen Seiten quasi eine Abschrift des manisch-depressiven Gedankenstroms präsentiert, ahnt der Leser, wie undurchdringlich der Wahnsinn ist.
Damit steht „Die Erfindung der RAF durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ Uwe Timms Essays und Romanen oder auch Michael Königs Studie direkt gegenüber. Wer wissen möchte, wie die deutsche Gegenwartsliteratur für Antworten auf den Terrorismus sucht und dabei fast komplett Al-Qaida und ISIS ausspart, der erfährt es bei Michael König. Wer sich dem Terrorismus humanistisch und literarisch nähern möchte, der ist bestens bedient bei den wirklich glänzenden Romanen Uwe Timms und bei seiner hellsichtigen Essaysammlung „Montaignes Turm“. Wer aber in den Abgrund blicken, einem Kliniktheaterstück beiwohnen und Exkursen über die Rolling Stones, Rudi Dutschke, Pop-Attentate oder „Ventriloquisität und Ventriloquisation“ folgen möchte, wer keine Angst vor dem Wahnsinn und vor terroristischem Denken hat: der findet bei Frank Witzel anspruchsvolle Unterhaltung, Verwirrung, große Literatur.
Frank Witzel: „Die Erfindung der RAF durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“, Matthes & Seitz, 800 Seiten, 29,90 Euro / Uwe Timm: „Montaignes Turm“, Kiepenheuer & Witsch, 192 Seiten, 16,99 Euro /Michael König: „Poetik des Terrors – Politisch motivierte Gewalt in der deutschen Gegenwartsliteratur“, Transcript, 514 Seiten, 49,99 Euro