Mit „Letzte Ehre“ schreibt der Bestsellerautor Friedrich Ani im Andenken an seinen 2020 verstorbenen Lektor Raimund Fellinger. Sein Kriminalroman erzählt gleichzeitig von einem der traurigsten Themen unserer Gegenwart; von Gewalt gegen Frauen, von Morden, von Femiziden.
Es gibt keine Kriminalromane ohne Geheimnis, keine Spannungsliteratur ohne Rätsel. Das größte Geheimnis von Friedrich Anis „Letzte Ehre“ war über lange Zeit allerdings kein ungelöster Mord, sondern die Frage, ob das Buch jemals reif für die Veröffentlichung sein würde. Der Routinier Ani hatte große Schwierigkeiten, seine Figur, die Kriminalkommissarin Fariza Nasri, durch den Dschungel unterschiedlicher Fälle zu lotsen.
„Ich bin nicht mehr zurande gekommen mit meiner Figurenvielfalt. Ich war wirklich verzweifelt – und auch mein damaliger Lektor, der ja leider nicht mehr lebt, Raimund Fellinger, der hatte so seine Schwierigkeiten und wir lasen immer wieder beide das Manuskript und dachten: ‚Also, wir müssen da nochmal arbeiten, irgendetwas muss passieren.’ Irgendwann, als Fellinger letztes Jahr dann verstorben war, wollte ich das Manuskript nicht aufgeben. Ich wollte, dass wir es hinkriegen und dass es erscheint. Und dann habe ich mich nochmal hingesetzt, nochmal gekürzt und nochmal umgeschrieben und die Fassung, die jetzt erschienen ist, ist die zehnte.“
Raimund Fellingers Vermächtnis
“Letzte Ehre” wird so zum Vermächtnis Raimund Fellingers, der von 1979 bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr der prägende Lektor des Suhrkamp-Verlags war. Er betreute unter anderem das Werk von Thomas Bernhard, Peter Handke und Uwe Johnson. Doch bei „Letzte Ehre“ wusste auch er nicht weiter, bei dieser in München spielenden Geschichte, die auf je unterschiedliche, doch stets erschütternde Weise berichtet von Gewalt gegen Frauen, gegen Mädchen, Geliebte, Prostituierte, Ehegattinnen, und die zunächst konventionell anfängt mit dem seltsamen Verschwinden einer 17-Jährigen.
Das ist das offensichtliche Rätsel, doch zahlreiche weitere strukturieren infolgedessen den Handlungsverlauf. Die junge Frau bleibt erst einmal verschwunden. Gleichzeitig erscheint, quasi als Gegenfolie, Stück für Stück ein unheimliches Gespinst ineinander verwickelter Missbrauchsgeschichten, die sich Kriminalkommissarin Fariza Nasri über nervenaufreibende Verhöre langsam erschließen und miteinander in Beziehung bringen muss.
„Manchmal denke ich, das einzig Wahre in meinem Leben sind die Lügen. Meine Lügen und die der Anderen, denen ich gezwungen bin zuzuhören. Sie glauben, sie bekämen von mir eine Form von Erlösung to go mit auf den Weg; stattdessen schenke ich ihnen etwas wesentlich Persönlicheres: meine ureigene, nach allem Gebrauch immer noch fantastisch funktionierende und blendend verpackte Lüge in Gestalt einer scheinbar unfassbar geduldigen Kommissarin.“
Mehr Geschlechter-, denn Milieustudie
Die Form des Detektivromans erzielt seit jeher Spannung durch ein paradoxes Erzählverfahren, denn stets soll der Kriminalfall rasch aufgeklärt werden, während die Geschichte eben diese Aufklärung so lange wie möglich verhindern muss. In „Letzte Ehre“ wächst peu à peu ein Rhizom einander überlagernder und durchkreuzender Gewaltverbrechen, die ihren Ausgang stets in der brutalen Herabwürdigung weiblicher Opfer nehmen.
Es sind Opfer, die teilweise selbst zu Täterinnen werden, weil sie verzweifelt sind, weil sie Angst haben, weil sie aufgrund ihrer Traumatisierung getriggert werden. „Letzte Ehre“ ist mehr Geschlechter-, denn Milieustudie. Nicht das Rotlichtviertel, sondern Kinderzimmer, Wochenendhütten und Ferienpensionen sind hier Bedingung der Möglichkeit abscheulichster Gewalttaten. Doch Friedrich Anis Roman ist frei von voyeuristischen Schreckensschilderungen. Stets bewahrt er den Duktus der Diskretion.
„Manche Details deutete Ines bloß an – sie schienen ihr nicht wichtig genug, während ich nichts als Abscheu empfand –, andere schilderte sie in ihrer kindhaften Sprache ohne besondere Betonung oder in Windeseile. Sie brachte, dachte ich unbeholfen, die Grausamkeiten hinter sich, sie wurde sie los, indem sie den Tisch beschwor, das silbrige Gerät, den Raum mit der Frau, die ihr aus rätselhaften Gründen zuhörte.“
Misshandelt bis zur Bewusstlosigkeit
Selbstverständlich ist nichts rätselhaft an der Zugewandtheit der Münchner Kriminalkommissarin. Wie in vielen Detektivgeschichten, so wird auch hier die Dunkelheit der Verbrechen in der Ermittlerin gespiegelt. Auch Fariza Nasri hat sich schuldig gemacht. Sie will nicht nur die Opfer, sondern auch sich selbst retten; oder sich betäuben mit dem Leid der anderen, das sie ablenkt von der eigenen Seelenpein. Es ist eine Pein, die Fariza Nasri in Wut stürzt, in Furcht, Zittern, Verwirrung – und in den Alkohol.
„Das Elend der beiden Frauen, die eine misshandelt bis zur Bewusstlosigkeit, die andere geschändet ohne jede Aussicht auf Erlösung. Und ich? Ich hockte die halbe Nacht in meiner Stammkneipe, goss mir Weißwein in die Birne und ließ mir von einem Fremden flüssigen Starkstrom einflößen; als gäbe es etwas zu feiern, wie damals; als hätte ich ein Recht zum Saufen.“
Wagnis einer weiblichen Erzählstimme
In „Letzte Ehre“ versucht eine selbst Traumatisierte, das Leid anderer Opfer zu lindern. Hier trifft ein Hard boiled-Plot auf empathische Figurenzeichnungen, auf psychologisch feinsinnig konstruierte Dialoge und auf eine literarisch gehobene Sprache, die Friedrich Ani an keiner Stelle entgleitet, obschon er als männlicher Autor das Wagnis einer weiblichen Erzählstimme eingegangen ist. – Es hat sich gelohnt, zehn Anläufe zu machen, bevor der Text endlich gedruckt wurde. Friedrich Ani zollt seinem Lektor Raimund Fellinger mit „Letzte Ehre“ eben diese auf äußerst bewegende Weise.
Friedrich Ani: „Letzte Ehre“, Suhrkamp, Berlin, 270 Seiten, 22 Euro.