Iris Hanika ist mit „Echos Kammern“ nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021. Ihre Geschichte um die Dichterin Sophonisbe und einen bemitleidenswerten jungen Mann verbindet die antiken „Metamorphosen“ des Ovid mit Technopartys im Berliner Berghain-Club und kommt von David Bowie zu Beyoncé.
Eine deutsche Lyrikerin, zirka 50 Jahre alt, ist sehnsüchtig nach Neuem und reist von der Bundeshauptstadt Berlin in die Welthauptstadt New York, um für ihren ersten Roman zu recherchieren. Sie, die den überdeterminierten Barocknamen Sophonisbe trägt, trifft auf einer Party der Pop-Ikone Beyoncé den 25 Jahre jüngeren Josh, der in Yale über die ukrainische Nationalbewegung im frühen 19. Jahrhundert promoviert – und das Unheil nimmt in diesem hochkomplexen Text seinen Lauf.
Dieser Lauf ist eingebettet in opulent orchestrierte Szenen die vom urbanen Bohèmeleben berichten, von Wohnungsrochaden und Buchhandlungsflirts, von elaborierten Intellektuellendiskussionen – und vom Entstehen besagten New-York-Romans, den Sophonisbe unbedingt in einer eigenen Sprache schreiben möchte.
„Diese Sprache bezeichnete sie als ihre neue ‚lengevitch’ – so hört sich das Wort language an, wenn man es mit starkem deutschen Akzent ausspricht, und so brachte es der deutsch-amerikanische Publizist, Journalist oder was auch immer Kurt M. Stein in Schriftform, indem er seinen im Jahr 1925 veröffentlichten ersten Gedichtband ‚Die Schönste Lengevitch’ nannte.“
Das Echo eines Echos
Die zeitgenössische Dichterin Uljana Wolf hat sich vom „Lengevitch“-Band inspirieren lassen. Auch das berichtet Hanikas Roman und erwähnt lobend Uljana Wolfs „Meine schönste lengevitch“-Sammlung aus dem Jahr 2013. Von dieser lässt sich wiederum Sophonisbe inspirieren.
Es ist das Echo eines Echos, ein nicht endender Hall. Mit Josh, dem auffallend gutaussehenden Doktoranden von der Beyoncé-Party, hat die Heldin irgendwann ein weiteres Steckenpferd und gleichzeitig das eigentliche Thema ihres Romans. Sie wird ihn in Berlin wiedersehen, sie wird ihn dort verführen, begehren, umschwärmen:
“Manchmal schrieb sie nur seinen Namen in allen möglichen Varianten (Joshua, Yehoshuah, Jehoschua, Josua, Jesus)” – Die Sprach-, wird zur sexuellen Obsession, und darin stets anspielungsreich. „Echos Kammern“ ist überschäumend und vollgepackt, ein gattungsübergreifendes Potpourri, das in seiner „Love Story“ Mailwechsel, Tagebuchnotate, Lyrik und Lebensratgebersentenzen vereint. Klar ist, dass Sophonisbe narzisstisch, dagegen der jugendlich wirkende Josh komplementärnarzisstisch, also echoistisch genannt werden muss, was einen mehr komischen denn tragischen Effekt hat:
„Armer Junge, dachte Sophonisbe die ganze Zeit, armer Junge, und hatte ganz vergessen, wie sehr er ihr schon auf die Nerven gegangen war. Armer Junge, tut alles, was man von ihm verlangt, will immer nett und freundlich sein, und alles Leben fällt von ihm ab, sobald keine Anforderungen mehr zu erfüllen sind, sobald er genau das hergegeben hat, was man von ihm verlangte, und weiß dann nicht weiter.“
Mythen in Tüten
„Echos Kammern“ meint bei Iris Hanika nicht nur die häufig im Roman zitierten digitalen Verstärkungsräume des Internets. Der Titel verweist gleichsam auf jene selbstunsichere, kommunikationsunfähige Nymphe, die sich nach Narziss verzehrte, ihn aber nie für sich gewinnen konnte – und am Ende zuschanden ging: „nimmer ruhender Kummer verzehrt den kläglichen Leib, und dörrend schrumpft ihre Haut, die Säfte des Körpers entweichen all in die Lüfte. Nur Stimme und Knochen sind übrig. Die Stimme blieb, die Knochen sind, so erzählt man, zu Steinen geworden.“
Mit Zeilen wie diesen debütierte Sophonisbe in jungen Jahren. „Mythen in Tüten“ heißt das erfundene Lyrikdebüt. Man muss es sich ähnlich wild-intertextuell vorstellen wie Hanikas grenzenloses Hermeneutik-Karussell. Es gibt diesen quirligen Großstadt-Romanzen-Plot, es gibt ebenso zahlreiche Stellen die zeigen, in welcher Weise die im Buchtitel genannten Kammern ihre Kemenatenunschuld verloren haben.
Der bekannteste Bunker Berlins
Es gibt im Roman Speise- und Abstellkammern, und es gibt, nie benannt, aber deutlich angespielt, die Gaskammern von Auschwitz, Treblinka, Buchenwald. Sie erscheinen ein dreiviertel Jahrhundert nach Kriegsende als Farce, als popkulturell vereinnahmtes Echo, beispielhaft verdeutlicht vermittels einer Szene, in der ein Protesttrupp vorm derzeit bekanntesten Bunker Berlins, vorm „Berghain“-Technoclub protestiert.
„Wir belagern den Berghain nun seit fünf Stunden. Man könnte fast meinen, die fiktiven Subjektivitäten fänden das toll, weil es ihnen Gelegenheit gibt, die letzten Tage im Führerbunker nachzustellen, und diese Führerbunkergeschichte ist ja nun das einzige, was sie von der Vergangenheit Berlins wissen.“
Berlin, Berghain, Bunker, Führerbunker– diese assoziative Reihung bildet ein System. Der intendierte Effekt kann nur vermutet werden. Auf der Inhaltsebene wird viel geredet und erzählt. Bei derart zahlreichen Anspielungen will der informierte Rezipient reflexartig mitreden, assoziierend über die Ränder des Textes hinaussprechen.
Mit „The Police“ zum Mythos
Schnell fällt beim Namen Roxana der „Song „Roxanne“ von „The Police“ ein. Der Gedichtband „Mythen in Tüten“ verweist auf die „Neue deutsche Welle“-Musikgruppe gleichen Namens. Das möchte man anmerken, doch diese Anmerkungen verbittet sich Hanikas Text, indem er augenfällige Assoziationen permanent mitliefert. Er sagt Roxana und wenige Absätze später kommt „The Police“. Er sagt „Mythen in Tüten“ und erzählt dann von der NDW-Band.
Der Leser darf nicht mit intertextuellem Wissen glänzen. Er darf lediglich wiedergeben, was bereits gesagt worden ist, und wird auf diese Weise selbst zur oder zum Echo. Das ist bemerkenswert, denn selten gelingt ein avancierter literarischer Text, der Form- und Inhaltsebene ähnlich virtuos ineinander spiegelt wie hier. Iris Hanikas „Echos Kammern“ wäre beinahe untergegangen wie der mythologische Narziss – und wird nun mit der Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse endlich das verdiente Echo bekommen.
Iris Hanika: „Echos Kammern“, Literaturverlag Droschl, Wien, 240 Seiten, 22 Euro