Echte Pulp Fiction liefert der Berliner Krimiverlag „Pulp Master“, über den Bela B. von „Die Ärzte“ gesagt hat: „Lasst den Stoff nicht auf der Toilette liegen! Es könnte dann deutlich länger dauern“. Der Mafiathriller „Der Verstoß“ von L.R. Carrino ist zum Glück nur 122 Seiten kurz. Die reichen aber, um einem schwulen Mafioso das Genick zu brechen.
Seinen 16. Geburtstag feiert Giovanni, Sohn des neapolitanischen Camorra-Paten Don Antonio im Jugendknast auf der Insel Nisida und profitiert dort vom Ruf seines Vaters: „Jeder kennt Don Antonio Acqua Storta. Also begegnen sie mir mit Respekt. Sie besorgen mir Zigaretten, Haschisch, Geld für die Aufseher, damit sonntagnachts ein paar Nutten vorbeikommen, besorgen alles, was ich will.“ – Ausgerechnet in der Gefängniswäscherei hat Giovanni sein Erweckungserlebnis. Er beobachtet die als Strafmaßnahme gedachte Vergewaltigung eines Mitgefangenen. Dabei geht es nicht um fehlgeleitete, homosexuelle Begierde, sondern um nackte Gewalt. Doch: „Durch meinen Schädel rauscht das Blut, ich bin rattenscharf.“ Giovanni begreift, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt, dass ausgerechnet er, der katholische erzogene Nachwuchsmafioso, homosexuell ist.
Schwule Outings sind in Zentraleuropa, abgesehen vom breitbeinig daherkommenden Fußballsport, meist kein Skandal mehr. Da aber Romane ohne Konflikt langweilig sind, wird hier auf eine archaische Gesellschaft ausgewichen. Schon „Die Sopranos“ zogen in ihrer sechsten Staffel eine Menge Konfliktpotential aus dem Umstand, dass Mafioso Vito Spatafores eine Schwulendisco besucht. Giovanni reagiert im Roman mit dem brutalstmöglichen Abwehrreflex. Er schlägt das Vergewaltigungsopfer so lange, bis es stirbt, bringt also das wehrlose Objekt seiner Begierde um. Von da an ist Salvatores Leidenschaft mit doppelter Schuld belegt, mit der Schuld des Mordes und mit der Schuld gegenüber seinen Mitgefangenen, die er aufgrund seiner Erregung beinahe verraten hat. Denn wie kann man einen Mithäftling bestrafen, wenn in dieser Bestrafung heimliche Liebe steckt?
Giovannis Homosexualität ist „Der Verstoß“ im gleichnamigen Roman des Songtexters L.R. Carrino. Die spätere, als Umerziehung gedachte Zwangsheirat mit einem hübschen Mädchen ändert selbstverständlich nichts. Giovanni irrt wie ein Zombie durch Neapel. Er sucht ferngesteuert abgelegene Straßenstrichs auf, verliebt sich in einen anderen Mann, hadert mit seinen Gefühlen: „Ich muss mich beruhigen, darf jetzt nicht in Panik geraten. Die Leute können es förmlich riechen, wenn sie merken, wie unsicher und nervös ich bin.“
Dieser kurze Roman entfaltet deshalb so viel Energie, weil zwei mächtige Kräfte gegeneinander stehen: Die heterosexuelle Konvention der katholischen, italienischen Familie, und die persönliche homosexuelle Neigung. L.R. Carrino erzählt diese bittere Geschichte schonungslos und ohne Sentimentalitäten. Hier gibt es die härtesten pornographischen Szenen seit Henry Millers „Opus Pistorum“, ein Weltzweifeln, das Georg Büchners alten, wahren Satz „Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“ bestätigt, und eine Schonungslosigkeit vom monströsen Ausmaß der HBO-Serie „The Wire „. Grandios.
Zum Weiterlesen: Der Italiener Andrej Longo schreibt seit Jahren die besten Mafiageschichten. Es ist ein Blick in andere Leben, in ein Neapel, das seit Roberto Savianos verfilmtem Camorra-Bestseller “Gomorrha“ als Brennpunkt gesetzt ist. Einen sehr lustigen Vergleich zwischen Francis Ford Coppolas „Der Pate“ (nach dem Roman „Der Sizilianer“ von Mario Puzo) bietet eine schweizer Queer-Seite. Die „schwulen Jungs“ aus Deutschland sammeln auf ihrer Seite etliche Coming-Out-Romane. Eine ähnlich lange Liste bietet die Krimi-Couch unter dem Schlagwort „Mafia“.
L.R. Carrino: „Der Verstoß“, übersetzt von Klaudia Ladurner, Pulp Master, 128 Seiten, 11,80 Euro.