Die Melancholie der Medien ist Thema des neuen Erzählungsbandes von Ulf Erdmann Ziegler. Seine Geschichten können beispielhaft stehen für die Emanzipation von der amerikanischen Short Story.
Es gab schon einmal eine deutsche Strömung, die sich zusammensetzte aus Listen, Techno und Pop, aus Pornographie und allen damals verfügbaren Medien; das war die sogenannte Popliteratur der späten 1990er und frühen 2000er Jahre. Inzwischen bestimmen andere Genres den literarischen Diskurs. Die Popliteratur ist den Familiengeschichten gewichen, den Empfindsamkeitsbetrachtungen und historischen Romanen.
Wie schön ist es, nun ausgerechnet bei Ulf Erdmann Ziegler, einem der ungewöhnlicheren Schriftsteller der deutschen Gegenwart all das wieder zu lesen, wenn auch in vollkommen anderer Diktion: „Die Plattenfirma installierte bei ihm zu Haus WiFi, ließ einen Laptop einrichten, der Praktikant gab ihm Unterricht. Er begann sich frei zu bewegen in der Welt der Mausklicks, spät, aber nicht zu spät. Tagsüber verwaltete er die kleinen Geschäfte von Raw Music, buchte nebenbei die Karte für den Kammermusiksaal; und dann, am Abend, die neu entdeckte Musik.“
Der hier beschriebene Mann, vorgestellt als früherer „Doyen“ von Punk, Techno und Experimental, war vor langer Zeit reisender Konzertveranstalter. Nun arbeitet er, nach vielen lauten Jahren, als kleiner Angestellter. Er soll für einen Kammermusiksaal alle Druck- und Onlineprodukte herstellen; was natürlich weite entfernt vom Glamour ist. „Zerbrochene Spiegel“ heißt die Geschichte, und sie reiht sich ein inmitten dreizehn weiterer, die „Schottland und andere Erzählungen“ von Ulf Erdmann Ziegler zu einem rätselhaften Leseerlebnis machen. Dieser Mann blickt zurück, und was er sieht sind eben jene im Titel apostrophierten Spiegel, die zerbrochen sind. – „’Es ist glatt, pass auf!’“, ruft er dem Jungen im Wageninneren zu. Der öffnet den Mund, aber man kann die Antwort nicht hören.
So endet die Geschichte, mit einer Antwort, die nicht gehört werden kann. Dieser kurze Abschnitt, kann beispielhaft für den Erzählungsband stehen, der mehr widerspenstig denn affirmativ zahlreiche Elemente der so genannten Popliteratur verwendet, aber eben nicht das Jetzt und den großen Knall, sondern das Gestern und die Melancholie feiert. Seine Geschichten tragen Titel wie „Kette verlieren“, „Katalog des Abschieds“ oder „Video-Vampir“. Sie erzählen von Menschen, denen etwas abhandengekommen ist, und die zugleich kein passendes Medium finden, um das Verlorene von der Erinnerung zum lebendigen Begriff, vom verblassten Bild in die HDTV-Gegenwart zu retten.
„Kunst ohne Thema, was für eine perfekte Finte. Hatte gereicht für ein Arbeitsleben. Ein Hauch von Anti-Glamour. Theorie-Fragmente. Rohe Coolness. In Delhi werden sie es frisch finden, das ganze Frühwerk umkopiert auf DVD. Und wenn nichts Neues dazukommt, dann ist das eben so.“
Der hier nachdenkende Videokünstler einer anderen Geschichte hat sich von seiner eigenen Arbeit verabschiedet. Und so geht es die ganze Zeit in Ulf Erdmann Zieglers Band: Menschen verabschieden sich von ihrer Vergangenheit, von ihren Leidenschaften, vom Grellen und Bunten – und bleiben zurück als seufzende Melancholiker: „Neu ist, dass er weint, als Katrin wieder da ist.“
Die Melancholie ist das einzige Neue, was diese Figuren erleben. Es sind Figuren, die permanent memorieren und archivieren, und mit dem Archivieren ihre frühere Vitalität beerdigen. Es werden Listen erstellt von noch zu lesenden Büchern, von Tonbändern und von pornographischen Filmgenres. Es erscheinen Bibliothekarinnen und sortierende Uni-Dozenten – es geht um Kindheitsgeräusche, die abhandenkommen und einer hört bis in die Nacht Aufnahmen der „Winterreise“ auf YouTube. Und es wird gelesen, sehr viel gelesen in diesem Buch, das von zahlreichen Büchern erzählt.
Das Bemerkenswerte dieser neuen Geschichten von Ulf Erdmann Ziegler ist, dass man sie nicht einordnen kann in die auch hierzulande oft kopierte Short Story-Tradition der angelsächsischen Literatur. „Schottland und andere Erzählungen“ wirken weder, als seien sie in einer Sitzung entstanden – dafür sind sie zu artifiziell – noch bedienen sie sich durchsichtiger Spannungsbögen, an Hollywood erinnernder Plot Points oder gar Cliffhanger. Ulf Erdmann Ziegler Geschichten sind nicht verfilmbar, sie leben von einer Innerlichkeit, die durch keinen Off-Kommentar widergegeben werden können.
Wer „Schottland und andere Erzählungen“ liest, der wird zwar konfrontiert mit nahezu allen Kulturleistungen unserer Menschheitsgeschichte, der trifft auf Tanz und Techno, auf Odysseus und die brave Institution des Erasmusstipendiums, auf Konzerte, Kunst und das altsprachliche Gymnasium. Dennoch wird von Seite zu Seite klarer, dass wir trotz aller Kunst und Ablenkung am Ende nur der eigenen psychischen Verfasstheit ausgesetzt sind. Die Figuren von Ziegler sind in sich eingeschlossen, und das Außen kommt nicht mehr an sie heran.
Diesem schweigsamen Zustand des Locked-In eine Sprache zu geben ist die große Leistung dieses Bandes, den man, einmal gelesen, schnell ein zweites und drittes Mal zur Hand nehmen möchte, um hinter sein Geheimnis zu kommen. Es gehört zur vornehmen Könnerschaft des Autors, dass er eben dieses Geheimnis vor den Lesern verbirgt. „Schottland und andere Erzählungen“ mögen in der Gegenwart spielen – doch sind sie aus einer Zeit gefallen, die wir verloren haben, um am Ende, Mensch unserer Gegenwart, allein dazustehen.
Ulf Erdmann Ziegler: „Schottland und andere Erzählungen“, Suhrkamp Verlag, Berlin, 190 Seiten, 22 Euro