Als Komponist wurde Marc Sinan unter anderem mit dem Sonderpreis der Deutschen UNESCO-Kommission ausgezeichnet. Jetzt berichtet der 46-Jährigen in seinen Debütroman „Gleißendes Licht“ von den traumatischen Folgen des Völkermords an den Armeniern.
Schon Robert Musil hat erkannt, „die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt.“ Diese schöne Beobachtung ist dem beeindruckenden Debüt „Gleißendes Licht“ vorangestellt, das auf verschiedenen Ebenen eine traumatische Familiengeschichte erzählt und zeigt, wie sich dieses Hineinfallen in die unendliche Flüssigkeit anfühlen kann.
Der Komponist und Musiker Marc Sinan eröffnet seinen Roman mit vierzehn eindringlichen Paukenschlägen – und die Erschütterungen eben dieser Schläge grundieren seine Erzählung, die von den beinahe 110 Jahre andauernden Folgen eines abscheulichen Verbrechens berichtet. Es ereignet sich während des weiterhin von der türkischen Regierung geleugneten Völkermords an den Armeniern. Im ersten Kapitel rudert der junge türkische Hilfssoldat Hüseyin Umut von Ordu aus auf das offene Schwarze Meer. Es ist der windstillste Tag des späten Frühlings 1915. An Bord des Ruderboots sind Soldaten des Osmanischen Reichs und vierzehn armenische Kinder. Irgendwann stoppt die Fahrt. Dann wird Hüseyin Zeuge einer schockierenden, mit dem Geräusch eines auf dem Wasser aufschlagenden Körpers beginnenden Exekution.
„Das Boot schwankt heftig, und doch wagt er es nicht, sich zu regen. Was ist das für ein unerhörtes Geräusch, denkt er, und sofort noch mal: der nächste Schlag, wie eine tiefe Hochzeitstrommel, und dann der Klang von Wasser, das sich über dem in den Fluten versinkenden Körper schließt. Vierzehn Mal wiederholt sich der Schlag, und Hüseyin fragt sich, wie sie so still sind, die Kinder, wenn sie die anderen in den Fluten verschwinden sehen, um schließlich selbst hinterherzugehen. Und warum sie sinken, sinken, sinken wie Steine.“
Wale töten ist eine Sünde
Vierzehn Kinder werden ermordet, das sind vierzehn von bis zu 1,5 Millionen Opfern, die hauptsächlich 1915 und 1916 beim Völkermord an den Armeniern während Massenexekutionen und Todesmärschen umgekommen sind. Der junge Hüseyin, gleichsam Zeuge und bezahlter Profiteur des mehrfachen Kindsmords, ist einer von zwei männlichen Hauptfiguren. Hüseyin verdrängt die schreckliche Tat. Er heiratet eine armenische Waise und erlebt sein persönliches Wirtschaftswunder durch den Export von Haselnusskernen im großen Stil, bis Importbeschränkungen infolge des Zweiten Weltkriegs das Geschäft ruinieren.
Oder liegt der fürchterliche Urgrund seines Bankrotts im Schwarzen Meer geborgen? „Irgendwann wurde ihm das Geschäft zu klein, und da entschied er, in die Fischerei einzusteigen, fing Schweinswale und Delfine, um Tran herzustellen. Meine Oma, meine Anneanne, sagte ihm, er solle das nicht tun, Wale töten sei eine Sünde. Es würde ihn ruinieren. Zwei Jahre später war er pleite.“
Das gewöhnliche Münchner Leben
Die Wahrheit, wie gesagt, ist eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt. Es wird bis zum Schluss unklar bleiben, was genau den Niedergang des Haselnussgeschäfts begründet hat. Aber nicht nur Hüseyin fällt, sondern viele Jahrzehnte später auch ein anderer Mann, die zweite männliche Hauptfigur. Dieser andere Mann wird bereits im zweiten Kapitel vorgestellt. Es ist Hüseyins Enkel Kaan, der in den ersten Jahren seines Lebens nichts von den familiären Genozid-Verstrickungen ahnt. Kaans Kindheit im München der 1980er Jahre ist von einer nichtwissenden Unschuld getragen.
„Alles war gewöhnlich an Kaan. Seine blonden Locken, das Haus der Familie im Vorort von München, zehn Minuten mit dem Fahrrad zur S-Bahn, ein Reihenmittelhaus. Der Vater, Ingenieur mittleren Alters, mittlerer Angestellter bei Siemens. Die Mutter, technische Zeichnerin, hatte in seiner Abteilung gearbeitet und wusste gleich, er war der Richtige für sie. Kein Macho, ein weicher, schüchterner, gut gekleideter und recht attraktiver Mann, unerfahren in der Liebe und ihr völlig verfallen. Sie verliebte sich ein wenig in ihn, und ihr Verstand sagte ihr, dass er ihr gegenüber loyal sein würde. Ihr Gefühl sagte ihr, dass das mehr war, als sie je von einem der Männer hätte erwarten können, die sie sehr geliebt hatte. Ungewöhnlich für eine Münchner Durchschnittsfamilie war, dass Kaans Mutter Nur hieß. Nach einem Jahr in München sprach sie fließend Deutsch.“
Eine proust’sche Recherche
Das ist ein vollkommen anderes Leben als das Leben des Großvaters, anderthalbtausend Kilometer und zwei Generationen vom Enkel entfernt. Dennoch sind beide Leben miteinander verbunden. Die traumatischen Ereignisse aus dem Jahr 1915 wurden, so die These des Romans, auf frappierende Weise weitergereicht. Wie dieses Weiterreichen geschah, wird über 280 Seiten erst Stück für Stück deutlich. Wie in einer Detektivgeschichte enträtselt „Gleißendes Licht“ in jedem Kapitel neue Indizien, dabei springend, vom Bosporus der 1910er Jahre ins New York der Mittneunziger, vom Schwarzen Meer der 1930er übers München der 1980er bis in die spekulierte Zukunft des Frühjahrs 2023.
Der Text folgt so einer ebenso kriminalistischen wie proust’schen Recherche, die Kaan im Alter von über 40 Jahren beginnt, nachdem ihm klargeworden ist, dass er, der Traumatisierte, nicht mehr weitermachen kann, wie bisher. „Schreib endlich die Geschichte auf, Kaan. Schreibe, damit du sie vergessen kannst. Denn nur im Vergessen besteht die Chance zu überleben, sagt der Dede, ohne auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Ich beginne zu schreiben. “
„Gleißendes Licht“ kann man als Ergebnis dieses Schreibprozesses lesen. Kaan, der Enkel, ist zwar früh ein erfolgreicher Musiker. Doch in ihm wirkt eine vor sich selbst verborgene Aggressivität, die insbesondere in einer empathisch erzählten, toxischen Liebesbeziehung offenbar wird. Es ist die Aggressivität des nicht Verarbeiteten, ein wütendes Nicht-Aussprechen-Können des Monströsen, des Genozids. Kaan gelingt auf keiner Ebene die Artikulation seiner Gedanken und Gefühle, nicht einmal gegenüber Zizi, seiner Geliebten, der berührendsten, opferbereitesten Figur dieser Geschichte, in der noch einige andere opferbereite Frauenfiguren ihren Auftritt haben. Zizi ist erwartungsfrei und dem schwierigen Charakter Kaans zugewandt. Zizi verkörpert eine mögliche Heilung.
„Eine Sache bleibt, als Zizi und Kaan längst ein Paar sind: Sie führen ewige Telefonate des Schweigens. Stunden- und nächtelang lauschen sie dem Knistern der Leitung, schlafen ein, erwachen und lauschen wieder. Kaan kann sich nur in Gedanken klar artikulieren, aber wenn es ums Sprechen geht, wird er stumm. Da ist ein Dickicht aus erlernten Verboten und die Unfähigkeit, bei der Sache zu bleiben, das Lärmen unzähliger Nebenschauplätze.“
Unter permanenter Hochspannung
Etwas in Kann fühlt, dass er sich über die erlernten Verbote erheben muss, dass es auch für ihn kein richtiges Leben im falschen geben kann. Doch erst muss er zahlreiche Trümmer hinterlassen, bevor er den Mut aufbringt, die Geschichte seiner Familie aufzuschreiben, post-memorial, wie so viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller unserer Gegenwart. Einfühlsam zeigt dieser Roman, wie sich Kaan in seiner frühen Zeit als Erwachsener quält, wie diese Nicht-Verarbeitung des Familientraumas verhindert, dass er glücklich wird.
Verschlungene Wege geht er, immer um das eigentliche Problem seines Lebens herum. „Gleißendes Licht“ beschreibt im metaphernsatten, teilweise mythischem Ton, wie dieser getriebene Mann über viele Jahre seine musikalische Karriere geradezu manisch verfolgt, als gelte es, den inneren Schmerz durch äußeren Applaus zu lindern. Kaan steht unter einer permanenten Hochspannung, er ackert, kämpft und bemüht sich, dem inneren Schrecken davonzulaufen.
„Kaans Vorstellung von Größe besteht darin, dass er ohne Unterlass versucht, sich zu überfordern. Glück würde sich einstellen, wenn er sich für das rechte Maß interessierte. Im Leben wie beim Joggen. Wenn er liefe, um das Adrenalin in seinen Adern zu verbrennen. Um die Wut zu lindern, die in Wahrheit Angst ist. Doch wenn die Angst vergangen ist, läuft er weiter. Bis ein anderes Gefühl, der Schmerz, ihn bestimmt.“
Verliebt in eine Raupe
Der physische Schmerz soll die psychische Qual überdecken. Mit dem sich verausgabenden Körper kämpft Kaan gegen seinen erschöpften Geist. Meisterhaft fühlt sich dieser Roman in die Pein jener Enkel ein, die betrauern, worüber ihre Großeltern und Eltern nur schweigen konnten. Er verschränkt Generationen, Perspektiven, Erzählungen, er will auf poetischem Wege ein großes Problem verstehen – und ist in diesem Verstehen einer nicht endenden Hoffnung zugeneigt.
„Wenn er anerkenne, dass etwas nicht stimme mit seiner Familie, mit ihm, dann könne er eine Verwandlung vollziehen, die bald abgeschlossen sei, und für diese Transformation brauche er sie, Zizi. Sie habe sich in eine Raupe verliebt, die sich nun verpuppt habe, um ein Schmetterling zu werden. Ich werde dein Pfauenauge sein, wirklich, oder glaubst du mir nicht?“
Man kann nur staunen, wie variantenreich die literarische Klaviatur des Musikers Marc Sinan ist, wie er Kapitel kombiniert, Tonarten wechselt, wie er unterschiedlich klingende Motive durch diese Geschichte zieht, bis der Eindruck eines großen, polyphonen Oratoriums entsteht. „Gleißendes Licht“ ist ein großer Künstlerroman, eine deutsch-türkische Familienaufstellung und eine Heilslehre über die Frage, wie innerer Frieden trotz eines langen Kampfes möglich wird.
„Doch sind wir Brüder“, steht in einem der letzten, an eine Litanei erinnernden Kapitel, wenn Kaan den Täternachfahren gegenübersteht und bekennt: „Meine Vergebung ist dein / Euer Frieden. / Euer Glück. / Heil. / Deine Gesundung ist meine Gesundung. / Unser Leben ist eure Freiheit vom Blutdurst deines Volkes. / Eure Erlösung.“ Dieser beeindruckende Roman zeigt, dass jede Geschichte, selbst die Schrecklichste, die Chance ihrer Befriedung in sich birgt. Dafür muss sie allerdings erzählt werden. Das braucht Mut. Und eben diesen, überaus großen Mut hat Marc Sinan mit „Gleißendes Licht“ auf bewundernswerte Weise bewiesen.
Marc Sinan: „Gleißendes Licht“, Rowohlt, 272 Seiten, 24 Euro