Die Romantik reist nach Pjöngjang in Andreas Stichmanns neuer Geschichte, die von einer gleichgeschlechtlichen Liaison berichtet, von Saunabesuchen zu Propagandazwecken und vom großen Illusionstheater einer beängstigenden Diktatur.
Wahre Liebe beginnt wie ein Theaterstück. Wie oft hat man schon gehört: „Das war wie im Film, Roman, Theater als wir uns trafen.“ Wie es ist, wenn die Bühne der Liebe in eine zweite Bühne des Lebens gestellt wird, zeigt der Roman „Eine Liebe in Pjönjang“ von Andreas Stichmann. Die 50-jährige Hauptfigur Claudia Aebischer – vorgestellt als Präsidentin des Verbandes europäischer Bibliotheken – reist zusammen mit zwei Dutzend Berliner Kulturmenschen nach Pjöngjang, um in Nordkoreas Hauptstadt eine Deutsche Bibliothek zu eröffnen: “Sie würden nicht das wirkliche Land sehen, nur das Theaterstück Pjöngjang. Und in diesem Pjöngjang, dem Pjöngjang der Ausländer, gebe es zwar überall Militär, aber ebenso Alltägliches. Auch normale Menschen, sie würden sehen.”
Großes Theater am Paektusan
Unter diesen normalen Menschen ist die 30-jährige, fließend Deutsch sprechende Sunmi, aufgewachsen in der Kolchose Pota am Paektusan. Dieser höchste Berg des Changbai-Gebirges markiert die Grenze zwischen China und Nordkorea. Vom Paektusan aus kann das je andere Land beobachtet werden. Auf dem Paektusan findet zugleich ein bizarres Propagandatheater statt.
So soll der frühere Diktator Kim Jong-il dort geboren sein; was selbstverständlich eine volksverführende Lüge ist, die beispielhaft steht für diesen Roman, der als „Theaterstück Pjöngjang“ von zahlreichen Verführungen und Lügen berichtet. Sunmi, die ihre Dissertation über die Literatur der deutschen Romantik geschrieben hat, soll Claudia Aebischer während des Nordkorea-Aufenthalts begleiten, aushorchen, irgendwann sogar auf professionell romantische Weise um den Finger wickeln.
„Im Namen des Zentralkomitees, welches ausschließlich aus Männern bestand, sprach eine Frau zu ihr. Sunmi werde Kleider in ihrer Kammer vorfinden. Sie solle aus ihnen dasjenige wählen, welches ihres Erachtens der Deutschen am besten gefalle. Sunmi bekam weiche Knie. Der Begriff für diese Art Auftrag lautete umschmeichelnder Begleitservice.“
Permanente Überwachung
Dieser umschmeichelnde Begleitservice im Auftrag der Parteikader, liegt bedrohlich unter der Handlungsebene. Von der hochnotpeinlichen, den höchsten Führerkult besingenden Bibliothekseröffnung wird erzählt, vom Besuch einer Straußenfarm, von Saunagängen und von den irrwitzigen Bemühungen, der Deutschen zitierfähige Lobsätze über Nordkorea zu entlocken. Die Bedrohung ist allgegenwärtig, die Arbeitslager an der Peripherie, die permanente Überwachung der deutschen Delegation durch den Staatsapparat, die Furcht aller, in den Augen der Mächtigen einen Fehler zu begehen.
Permanent schwebt die Verhaftung wie ein Damoklesschwert über der deutschen Delegation. Und doch ist das, was gezeigt wird, nur Kulisse für ein inneres, für ein psychologisches Drama, das von romantischen Dichtern ausgedacht scheint; nicht nur, weil Sunmi aufgrund veralteter Lehrbücher spricht wie Eichendorff, Novalis, Tieck.
„Oft hänge sie den Buchstaben E an, was nicht mehr üblich sei. Türe. Lichte. Walde. Liede. Und dann benutze sie Begriffe, die man nur noch in der Sprache der Bücher finde: Unbill. Albdrücken. Verzückung.“
Walküre und Wikinger
Romantisch soll Sunmi ihre deutsche Begleiterin becircen. Doch können die nordkoreanischen Parteikader nicht ahnen, dass sie möglicherweise tatsächlich von Claudia fasziniert ist, von dieser zwanzig Jahre älteren Deutschen, die wiederum fassungslos ist, da ihr in der Fremde so viel unverhoffte Zuneigung entgegenschlägt: „Wie direkt Sunmi mit einem Mal war. Und dazu kamen diese Kosenamen, oder was immer das sein sollte, was Sunmi neuerdings in ihre hübschen Sätze einbaute. Riesin hatte sie schon zwei Mal gehört. Und je ein Mal: Walküre, Wikingerin, Turm. Die Worte saßen ihr als süßer Stachel im Fleisch.“
Oder ist das Liebeswerben Sunmis doch Strategie, um den Spionageauftrag zu erfüllen? Der Text bleibt bis kurz vor Schluss angenehm ambivalent, löst über die längste Strecke nicht auf, was Wahrheit, was Lüge ist. In dieser stets auf der Klinge balancierenden „Liebe in Pjöngjang“ spiegeln sich thrillerartig verschiedene Weisen des Verführens, des Schauspiels, des gegenseitigen Nutzens und Ausnutzens. „Sex? Wohltuend egal! Vermutlich würde Sunmi bald eigene Wege gehen, und so durfte es auch sein. Claudia würde sagen: Danke, dass wir etwas Nicht-Sexuelles miteinander erleben. Etwas Größeres. Freundschaft. Gespräche, Berührungen und Auslassungen. Nichts könnte beseelender sein. Familie.“
Vorgespiegelte Heiterkeit
Nur an dieser Stelle wird Sex angesprochen – als Markierung des explizit Nicht-Sexuellen. Dieser Roman ist keine gleichgeschlechtliche Phantasie, sondern stattdessen ein poetischer Versuch über das Unfassbare. Deshalb spielt er notwendigerweise in Nordkorea, in dieser zeitenthobenen, unwirklichen, weltabgewandten, in dieser unfassbaren Diktatur, wo die Wirklichkeit abseits der Arbeitslager und Haftanstalten von einer lediglich vorgespielten Heiterkeit ist.
Die Inszenierung der Mächtigen funktioniert, weil Menschen um ihres Glückes willen allzu gern belogen werden, so wie die 50-jährige Claudia Aebischer unbedingt glauben will, dass sie von Sunmi tatsächlich begehrt wird. Ausgerechnet in der Fremde sucht sie das Heimatliche, etwas, das sie beseelt – und wird so zur Wiedergängerin des romantischen Heinrich von Ofterdingen. Novalis in Nordkorea – Andreas Stichmann hat sich den fremdschönsten Roman dieses Bücherfrühlings ausgedacht.
Andreas Stichmann: „Eine Liebe in Pjöngjang“, Rowohlt, Hamburg, 160 Seiten, 20 Euro