Nachdem in Ungarn der rechtsnationale Bund Junger Demokraten (Fidesz) die Wahl gewonnen hat bekommt Nina Sahms Debütroman „Das letzte Polaroid“ eine neue Aktualität.
Einzelkind Anna aus München ist 14, als ihr Leben am Balaton ins Wanken gerät. Die behütete Tochter einer Architektin und eines Arztes lernt im Sommer 2001 die gleichaltrige Kinga aus Ungarn lernen, die von wesentlich entspannteren Eltern ins Erwachsenwerden begleitet wird: „Wenn ein Kind in der Pause eine Milchschnitte aß, dachte ich mit einem Überlegenheitsgefühl an die hungrigen Bakterien und biss glücklich in meinen Apfel. Erst am Balaton ließ ich langsam Schokoladenstücke auf meiner Zunge zergehen, schob mir weiße Mäuse in den Mund und lutschte Zitronenbonbons. Und als Kinga mir lachend ihre makellosen Zähne zeigte, geriet die Theorie meines Vaters ins Wanken.“ Kinga ist ein Lebemädchen, das sich für den Sohn des Tretbootverleihers begeistert, Alkohol trinkt und genaue Vorstellungen davon hat, wie ihr erster Kuss aussehen soll. Annas rührende Eltern sind dagegen übervorsichtig, spießig und begeistert von Gesellschaftsspielen. „Wir saßen stundenlang am Tisch, und wenn ich mich schlafen legte, konnte ich hören, wie meine Eltern ihre bunten Armeen über das Spielbrett schoben, wie ein Turm aus Holzklötzen in sich zusammenfiel oder wie sie ihre Buchstabensteine auf den Ablagebänken anordneten.“
Auch nach dem Sommerurlaub bleiben Anna und Kinga in Kontakt (obwohl Mama Architektin und Papa Anästhesist den Umgang verboten haben). Die beiden schreiben Briefe. Kinga berichtet von Affairen und schießt von ihrem Leben Polaroids, um die Erinnerungen teilen zu können. Anna dagegen hat einen besten Freund,d er schwul ist, einen männliche Liebschaft und nach der Trennung ihrer Eltern keine Lust, einen ähnlichen Lebensweg einzuschlagen. Der Respekt vor ihrem Vater ist dahin: „Sein Blick wanderte von der Tischplatte zum Boden und zurück, er sah mir nicht in die Augen, als er von der Affäre meiner Mutter mit einem Kollegen aus dem Architekturbüro erzählte, ich konnte ihn kaum hören.“ Anna macht eine Lehre als Bäckerin und lernt, Brezen zu sortieren – eine Maschine formt die Salzteigwaren automatisch. Ihr dekadenter Vater bietet ihr Anna an, ihr Gehalt zu verdoppeln, damit sie den gewohnten Stanmdrad halten kann. Sie lehnt ab.
Im Spätsommer 2011 erfährt Anna, dass Kinga nach einem Unfall im Koma liegt. Sie nimmt ihren kompletten Jahresurlaub, fährt mit dem Nachzug nach Budapest, zieht bei Annas Eltern ein und macht etwas ganz Seltsames: Sie besucht Kinga nicht, sondern übernimmt Stück für stück das Leben ihrer besten Freundin, inklusive ihres Liebhabers: „Er beugte sich vor und schob mir ein Stück in den Mund. Ich schmeckte Schokoladenmousse, Kirschen und noch einmal Schokoladenmousse. Abwechselnd aß ich Dobostorte und Lúdlábtorte, bis ich nicht mehr konnte und Tibor sich um die Reste kümmern musste.“ Ab da steht die Geschichte Kopf und der helle Sommer am Balaton verschwindet in absoluter Verwirrung. Anna ist nicht nur in ein verworrenes Privatleben eingedrungen, sondern auch in einen Kulturkreis, den sie schlichtweg nicht versteht. Ungarn ist nicht mehr sonnig. Ungarn ist ein faschistischer Staat geworden. Die Medien werden gleichgeschaltet. Redakteure treten in Hungerstreik. Moderatoren werden entlassen. „Das letzte Polaroid“ war ein Gruß aus dem guten Gestern. Während Kinga im Koma liegt zerbricht ihre Welt – auf politischer und auf privater Ebene.
Nina Sahm: „Das letzte Polaroid“, Aufbau, 242 Seiten, 17,99 Euro