Kommt in den besten Familien vor: Bruder und Schwester verlieben sich. Ihre Kinder bandeln ebenfalls miteinander an. Das geht „Meistens alles sehr schnell“ – bei Christopher Kloeble.
Als Josfers Hand beim Waschen zwischen die Schenkel seiner Schwester Jasfe gleitet, fackelt ihr Vater Nick nicht lang. Er bricht seinem Sohn die Nase. „Was nichts daran änderte, dass Nicks Härte die beiden enger zusammenschweißte.“ – Die Geschwister bekommen in einem oberbairischen Dorf des Jahres 1913 ihr erstes Kind, einen Jungen. Wenig später folgt das zweite, ein Mädchen. Zum Glück ist keiner von ihnen ein „Kloeble“ – so nennen die Einheimischen behinderte Inzest-Nachkommen. Gleichzeitig hat sich der Autor dieses aberwitzigen Romans, Christopher Kloeble, selbst hineingeschrieben, als Behinderter.
Am anderen Ende dieser Inzestversuche, ein Jahrhundert später, steht ausgerechnet der hochbegabte Albert. Er ist 19 Jahre alt, Halbwaise, in einem Kinderheim großgeworden, und nun auf der Suche nach der Vergangenheit seiner Familie. Gemeinsam mit seinem zurückgebliebenen, zwei Meter mächtigen Vater Fred zieht Albert los. Dabei verstrickt er sich in eine Abenteuergeschichte, die vom niederen Mord bis zur mutigen Heldentag alle menschlichen, übermenschlichen und tierischen Regungen beinhaltet. Weshalb Fred zurückgeblieben ist, kann sich jeder Leser denken, der Eins und Eins zusammenzählt. Was Albert zum Hochbegabten macht gehört zu den vielen, erst langsam ans Tageslicht kommenden Geheimnissen des Romans. Die Vor- und Rückblenden zeigen dörfliche Opferfeste, verunglückten Bordellbesuche während der deutschen Besatzung in Paris und Goldsuchen in der eckigsten Kanalisation Deutschlands. Vergleichbar mit dem Aufblitzen haarfeiner Goldadern hält jede Szene eine funkelnde Wahrheit bereit, einen weiteren Puzzlestein zum Gesamträtsel Geschwisterliebe und seine Folgen.
Familiengeheimnisse sind seit Aufkommen des Gesellschaftsromans im 19. Jahrhundert das bestimmende Literaturthema. In Goethes „Wahlverwandtschaften“ dreht sich das Liebes- und Begattungskarussell auf einem Landgut derart schnell, dass man sich in einen Hippieroman hineingeworfen glaubt. Bei Max Frischs „Homo faber“ endet die ungewollte Beziehung zwischen Vater und seiner Tochter tödlich. Das gab es selbstverständlich schon im antiken „Ödipus“. Aber die Bedeutung dieser Inzestkonstellationen hat sich radikal geändert, jeweils angepasst an den herrschenden Zeitgeist. Goethe schreibt eine chemische Komödie. Frisch erzählt vom rational denkenden Ingenieur, der erkennen soll, dass Leben nicht wie eine Maschine berechnet werden kann. Christopher Kloeble wiederum hat ein ganz anderes Anliegen, das sich zusammenfassen lässt im hochaktuellen Begriff „Inklusion“.
Behinderte Menschen haben das Recht, Teil der Gesellschaft zu sein. Diskriminierungen sind gesetzlich verboten, Chancengleichheit festgelegt in der „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ aus dem Jahr 2006. Christopher Kloeble hat dieses Thema bereits in seinem Drehbuch zum Film „Inklusion“ aufgegriffen, einer Geschichte über die junge, im Rollstuhl sitzende Steffi und dem sportlichen Paul, die gemeinsam in der achten Klasse eines Berliner Gymnasiums aufgenommen werden. Ein Roman besitzt gegenüber einem Film dem entscheidenden Vorteil, dass er keine Bilder zeigen muss. Solange Behinderte nicht als „anders“ beschrieben werden, sind sie natürlicher Teil der Geschichtenwelt und können einander lieben, Pläne schmieden und Menschen retten, ohne das beim Leser antrainierte Toleranz- und Mitleidsreflexe abspulen. Sie können auf natürliche Weise witzig sein. So streiten die „Kloebles“ im Dorf darüber, weshalb Menschen Gott verehren, obwohl sie ihn nicht sehen können, obwohl sie die Klobeles durchaus sehen können – aber eben nicht verehren. Und ob sie ebenfalls unsichtbar werden, sollten die Menschen irgendwann anfangen, an sie, die Klobeles, zu glauben.
Das ist großartig. Das ist humorvoll. Das ist aber auch literarisch hochinteressant. Wenn Filme den gleichen Effekt erzielen wollen, müssen sie grundsätzlich tricksen. In „Avatar“ oder „Source Code“ werden Behinderte mit einer virtuellen Realität vernetzt, sie wieder aussehen wie Nicht-Behinderte. Bei Christopher Kloeble sind Behinderte selbstverständlicher Teil unseres Lebens. Ohne wenn. Ohne aber. Ohne Tricks. Irrsinnig unterhaltsam und tatsächlich „meistens alles sehr schnell“ – so ist einer der besten Romane des Frühjahrs.
Christopher Kloeble: „Meistens alles sehr schnell“, DTV, 382 Seiten, 14,90 Euro