Liebe tut weh – das sagt die Literatur seit ihren Anfängen. Dennoch sind Agonie, Tränenlob und jene Form des Verlassenseins, die in die „trüben Fluten der Entwirklichung“ führt, nachwievor aktuell; wie in Hélène Gesterns „Schwindel“, gerade erschienen im Frankfurter Schöffling-Verlag. (Das Beitragsbild zeigt einen Ausschnitt aus dem Filmplakat von „Vertigo“)
Kaum auszuhalten ist die Einsamkeit in jener kurzen „Schwindel“-Geschichte der französischen Schriftstellerin Hélène Gestern, die gerade im Frankfurter Schöffling-Verlag erscheint. Anders als im Originaltitel „Un Vertige“ sind in der deutschen Übersetzung beide Bedeutungen des Schwindels geborgen – der Vertigo-Schwindel auf der einen, das unwahre Sprechen auf der anderen Seite. Wie passend, denn ein häufig schwindelnder Mann treibt die Ich-Erzählerin gleich zweimal ins Taumeln. Die Frau, sie forscht als Mediävistin an einer Kleinstadt-Universität, muss daraufhin erzählen, sie hat keine Wahl: „Ich dachte, wenn ich diese Geschichte mit Worten, mit einer Struktur einhegen würde, käme sie mir selbst weniger toxisch vor, also annehmbarer. Da sie ein unbeschreibliches Chaos gestiftet hatte, wollte ich ihr nun eine Architektur geben und ihr einen abgegrenzten Raum zuweisen.“
Rückblickend beobachtet die Erzählerin ihre beiden Liebesversuche mit T., einem Mann, der permanent abwesend ist, weil er durch die Welt reist, aber auch, weil er sich emotional unverfügbar zeigt, weitschweifende Nachrichten mit kurzen, dürren Mails pariert, seine Partnerin mal anzieht, mal fortstößt, weil er Streit provoziert, dann wieder kunstvoll um sie wirbt – während er gleichzeitig vergeben ist. Bei der ersten Affäre ist er verheiratet, beim zweiten Mal mit einer anderen Frau verbandelt, die selbstverständlich nichts von seinen Betrügereien ahnt. „Und so musste ich, als er zwischendurch in Belgien wohnte und ich ihn manchmal dort besuchte, mitansehen, wie er von Zimmer zu Zimmer ging und systematisch alle meine Spuren beseitigte, Haare, Taschentücher, Pinzetten und andere Gegenstände. Eine derartige Vorgehensweise ist so brutal, dass man sie nicht vergisst.”
Tränenlob und Liebesbeteuerungen
Schon Roland Barthes dachte in seinen „Fragmenten einer Sprache der Liebe“ über jene Rückfälligen nach, die sich „trotz und gegen alle Welt“ in einen Irrtum verrennen, als hätten sie eine ganze Ewigkeit vor sich. Diese Menschen, schreibt er, werden einsam, ausgestoßen von der Welt, wie Goethes Werther, den am Ende kein Geistlicher begleitet. Unweigerlich denkt man an die „Fragmente“, wenn in Romanen von Agonie und Liebesbeteuerungen die Rede ist, vom Tränenlob und jener Form des Verlassenseins, die in die „trüben Fluten der Entwirklichung“ führt. Hélène Gestern – offenkundig an Barthes geschult – nähert sich reflektierend dem Liebesleid – unklar lassend, ob „Schwindel“ eine vollkommen erfundene Erzählung oder vielmehr ein autofiktionaler Essay ist. “Man denkt an ein verlorenes Paradies zurück und macht sich klar, dass man es nie wieder betreten kann.”
Irgendwann kann niemand die Erzählerin aufheitern, ihren Alltag erhellen. Sie bringt sich nicht körperlich um, entzieht sich aber bis zur absoluten Fühllosigkeit, auch ihre Sprache bricht, da kommt wenig Neues. Die Depression ist ein Zustand der Wiederholungen, immer wieder wird längst Gesagtes, Gedachtes, Geschriebenes repetiert. „Und dann wird man den lieben langen Tag zum Staatsanwalt des eigenen Tribunals, verliest in Gedanken sinnlose Anklageschriften, in die man seinen ganzen Zorn und Groll einfließen lässt. Bis man eines Tages endgültig einsieht, dass diese Art der Rache nicht das Geringste bringt.“
Nah am Kitsch – doch wie soll man Gefühle rezensieren? An Stellen wie diesen zeigt sich eine Schwierigkeit des viel zu technisch argumentierenden Textes. Ist der Depressive, in Selbstvorwürfen gefangen, tatsächlich ein Staatsanwalt des eigenen Tribunals? Vielleicht wurde hier eine Leerstelle mit dem falschen Bild ersetzt. Und Leerstellen gibt es zahlreiche in Hélène Gesterns „Schwindel“.
Das Glück der Geselligkeit
Angesprochen werden: die Leere des Herzens, die Leere des Körpers, die Gedankenleere nach einer bestürzenden Mail. Die Erzählerin meidet in dieser Leere andere Menschen, will selbst enge Freunde nicht mit Trübsal verdrießen. „Bin ich gestorben“, fragt sie an einer Stelle. “So kamen mir binnen eines Jahres fast alle abhanden, die meine Verbindung zur Welt waren, wie mein Ex-Lebensgefährte, den ich ziehen ließ, damit er aufatmen konnte, und eine meiner beiden Katzen, die vor sechs Monaten gestorben ist und die mir fehlt. Ich habe so vieles verloren, dass ich nicht einmal alles auflisten kann, und diese Verluste prägen meine Gegenwart so sehr, dass ich mich nicht mehr an das Glück der Geselligkeit zu erinnern vermag”
Groß ist das Thema der Einsamkeit, noch größer die Frage „Warum Liebe weh tut“. Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz hat vor über zehn Jahren eine soziologische Erklärung über dieses Phänomen veröffentlicht. Erschütternd banal sind hingegen die Überlegungen Hélène Gesterns, nichts hat sie Illouz und Roland Barthes hinzuzufügen. Mal badet ihr Paar „in der Wärme eines Liebesozeans“, dann wird die beendete Liaison als schwarzer, gleichzeitig glühender Aschehaufen vorgestellt. So geht es seitenlang. Falb, zäh und erschütternd schlicht sind also diese ambitioniert angelegten, doch als Essay, noch mehr als Literatur gescheiterten „Fragmente einer Sprache der Einsamkeit“.
Hélène Gestern: „Schwindel“, aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky, Schöffling, Frankfurt/Main, 96 Seiten, 20 Euro.