Eine Ermittlerin, die selbst unter einem zurückliegenden Verbrechen leidet, stellt der Krimi „Im toten Winkel“ vor. Die Geschichte von Jochen Rausch eröffnet eine melancholische Reihe, die an der ehemals deutsch-deutschen Grenze angesiedelt ist.
Detektivische Ermittlungen fordern alle Konzentration. Vieles ist zu bedenken, bevor die vertracktesten Rätsel gelöst werden können. Doch in Jochen Rauschs neuem Krimi wird eine Kommissarin vorgestellt, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und deshalb ihre Gedanken nur schwer fokussieren kann. Siebzehn Jahre alt war Marta Milutinovics Tochter Charlotte, als sie hinterrücks überfallen und ermordet wurde. Mit dem Tod des Kindes zerbrach auch die Ehe der Ermittlerin, die sich nach vier Jahren der Trauerarbeit in ein kleines Dorf an der ehemals deutsch-deutschen Grenzen versetzen lässt. „Im toten Winkel“ verkriecht sie sich und hängt der schmerzhaften Vergangenheit nach.
“Wie wird eine Familie genannt, die ein Kind verlor? Waisenfamilie? Und die Eltern, wie nennt man die? Waiseneltern, Waisenväter, Waisenmütter? Marta lässt den Wein ins Glas gluckern, sonst ist es in der Wohnung still wie in einem leeren Museum. Es gibt gar kein Wort für Eltern, die ein Kind verloren haben, denkt Marta. Eine solche Begebenheit ist in der Sprache gar nicht vorgesehen, als werde ein solches Wort nie gebraucht.”
Gerechtigkeit für alle Todesopfer
Es gehört zu den besonderen Aufgaben der Literatur, eben solche Begebenheiten in Worte zu fassen, die in der Sprache gar nicht vorgesehen sind. So scheint der Romantitel „Im toten Winkel“ nicht nur auf den Ort des Geschehens bezogen, sondern auch auf die klandestinen Hinterzimmer unserer Sprache, auf das, worüber man üblicherweise vor Schmerz verstummt. Allerdings befindet sich nicht nur Marta in den Fängen einer düsteren Vergangenheit. Im kleinen Ort Schwarzbach wirkt ein anderes, lang zurückliegendes Verbrechen nach.
Vor über zwei Jahrzehnten wurde der Abiturient Jens Fritzsche tot aufgefunden. Sein Mörder konnte nie ermittelt werden. Seither wittert die misstrauische Gemeinde, einer der hier Ansässigen sei für die Schreckenstat verantwortlich. Das ungesühnte Verbrechen rollt Marta Milutinovic auf, als versuchte sie, Gerechtigkeit nicht nur konkret für den ermordeten Schüler, sondern auch allgemeiner, Gerechtigkeit für alle Todesopfer eines Verbrechens herzustellen, vordringlich natürlich Gerechtigkeit für Opfer wie ihre Tochter Charlotte. So ist die lang zurückliegende Ermordung Jens Fritzsches nicht nur ein Fall, sondern vielmehr ein Schlüsselreiz, der Marta Milutinovic permanent mit der eigenen Trauer konfrontiert.
“Die Trauer kommt immer wieder hoch, wie eine chronische Krankheit immer wieder zurückkehrt. Marta lehnt sich zurück, schließt die Augen, kann nichts dagegen tun, Charlotte auf der Bahre zu sehen, in dem Leichenschauhaus. Charlotte war kalt und bleich gewesen, unter dem Laken nackt und tot und hatte traurig geschaut.”
Existentielle Fragen
Kälte, überall Kälte. Als kalt werden auch Fälle wie der von Marta Milutinovic beschrieben. Solche „Cold cases“ sind seit längerer Zeit Inspiration zahlreicher Kriminalgeschichten, von Jussi Adler-Olsens Reihe um Carl Mørck bis zu zahlreichen True-Crime-Podcasts, die sich unaufgeklärten Verbrechen aus der fernen Vergangenheit widmen. In Jochen Rausch Roman ermittelt Marta Milutinovicz peu a peu den tragischen Hintergrund ihres kalten Falles. Eine sektenähnliche Gemeinde und heimliche Privatpartys werden eine Rolle spielen, biblische Verstrickungen, unterschiedliche Formen des Missbrauchs und die ganz andere Trauerarbeit eines Hinterbliebenen, der unter einem anonymen Twitterprofil anklagende, dem Mordopfer Jens Fritsche direkt in den Mund gelegte Tweets veröffentlicht. “Ich hatte mein ganzes Leben noch vor mir. Ein schönes Leben. Ich wollte noch nicht sterben. Du wolltest, dass ich sterbe. Tue Buße. #JensF”
“Im toten Winkel” eröffnet eine neue Krimireihe, die im ehemals deutsch-deutschen Grenzland spielt. Sie will auf verschiedene Weise eben diese Grenze und damit einhergehende Grenzüberschreitungen beobachten. Es wird, so lässt der erste Fall vermuten, eine Reihe der Melancholie – wie so oft bei Jochen Rausch, der schon 2008 im Debüt „Restlicht“ vom Verschwinden eines jungen Menschen berichtet und wenige Jahre später im Roman „Krieg“ einen trauernden Vater vorgestellt hat. Die nun vorliegende Geschichte verfängt einerseits durch die Enträtselung des Falles, andererseits durch jene existentiellen Fragen, die ungelöst zurückbleiben. Der Ermittlerin kann man nur wünschen, dass sie im Sinne Rilkes auch weiterhin ihre Fragen lebt – und den Leserinnen und Lesern, dass sich noch einige spannende Grenzland-Fälle ereignen, bevor Marta allmählich, ohne es zu merken, in die Antworten ihrer Fragen hineingelangt.
Jochen Rausch: „Im toten Winkel“, Piper, München, 302 Seiten, 22 Euro.