Mit dem als Novelle unterschriebenen Text „Widerfahrnis“ steht der 68-jährige Frankfurter Schriftsteller Bodo Kirchhoff auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2016. Der Wettbewerb soll laut Eigenbeschreibung eigentlich den besten Roman des Jahres auszeichnen. Aber selbst der Favorit, Thomas Melles „Die Welt im Rücken“, erfüllt diese Gattungsvorgabe nicht. – „Widerfahrnis“, das ist eines der elaboriertesten Bücher der Saison. „Widerfahrnis“ ist nicht weniger als Literatur auf zweiter Stufe, der man anfangs den Kitsch vorwerfen kann (was häufig in den vergangenen Tagen geschehen ist). Aber es ist fahrlässig, diesen Vorwurf nach kompletter Lektüre des Buchs in eine literaturkritische Bewertung hineinzunehmen.
Der Hinweis, den Menschen sei zueigen, dass sie auch dann eine Ähnlichkeit des Säuglings mit der begleitenden Mutter behaupten, auch wenn jene tatsächlich die Amme ist, gehört zu den Grundwarnungen, die schon Gérard Genette 1982 in seiner ästhetischen Schrift „Palimpseste“ ausgesprochen hat. Wer sich „Widerfahrnis“ nähert, der als „Novelle“ bezeichneten, schon im Titel doppelbödig konnotierten Erzählung von Bodo Kirchhoff, sei an Genettes’ Beispiel erinnert, denn es stellt sich permanent die Frage, ob der Dorn des Korkenziehers beispielsweise gleichzusetzen ist mit jener Dornenkrone, die Jesus Christus trug in den Passionserzählungen.
„Diese Geschichte, die ihm noch immer das Herz zerreißt, wie man sagt, auch wenn er es nicht sagen würde, nur hier ausnahmsweise, womit hätte er sie begonnen?“ Das ist der erste Satz von „Widerfahrnis“ – und er reiht sich ein in die Geschichte der Gattung Novelle an sich, seit ihren Anfängen mit „Tausendundeiner Nacht“ oder Giovanni Boccaccios „Decamerone“ – denn hier erzählt jemand eine Geschichte im Angesicht seiner Zuhörer, das ist ein ganz anderer Anfang als beispielsweise in den „Buddenbrooks“ von Thomas Mann – obschon auch nicht so viel anders als beim „Der Zauberberg“.
Ebenso wie Scheherazade in „Tausendundeiner Nacht“ um ihr Leben, ebenso wie sieben Frau und drei Männer im „Decamerone“ gegen den „Schwarze Tod“, gegen die Pest, (an-)erzählen, so ringt auch in „Widerfahrnis“ jemand mit Worten, aus Gründen der Selbsterhaltung. Denn hier will jemand festhalten, was ihm widerfahren ist – und was, auch das geradezu typisch für die Novelle, mit einer Unheimlichkeit angefangen hat. Oder anders formuliert: Die Geschichte der Novelle, sie beginnt spätestens mit Boccaccio in Italien, und nach Italien geht es auch in Bodo Kirchhoffs „Widerfahrnis.“
Der über Siebzigjährige, ehemalige Kleinstverleger Reither hat sich aus seiner Frankfurter Wohnung suspendiert, seine Profession abgewickelt und lebt nun in einem Apartmentheim am Fuße der Alpen. Dort gibt es Gemeinschaftsräume, ein Kaminfoyer und zwei weibliche Cherubim, die des nachts den Eingangsbereich bewachen. „Beide kamen wie er aus zurückgelassenen Welten, die eine aus Bulgarien, Marina, die andere aus Eritrea, eine wahre Kinderbibelschönheit, Aster, der Stern.“
Doch auch Marina und Astern können nicht verhindern, dass Reither eines Tages Seltsames vor seiner Wohnungstür wahrnimmt. „Da war jemand im Gang, eigentlich kein Aufenthaltsort, mit einer Wandfarbe, die nicht verriet, ob es Farbe an sich war oder nur der verblasste Rest einer geistlosen Farbidee.“ Jemand räuspert sich. Die unheimliche Wahrnehmung materialisiert sich an jenem Winterabend und Leonie, eine zirka fünf, sechs Jahre jüngere Mitbewohnerin, sofern jung in diesem Alter überhaupt eine Kategorie sein mag, klingelt bei Reither, dem früheren Verleger, Lektor, Büchermenschen, und die beiden kommen ins Gespräch, obwohl sich der alternde Mann der Irritation mittels Eskapismus hat entziehen wollen: „die Welt, das war das leise Räuspern auf der anderen Seite der Tür. Ein Blick durch den Spion, und er hätte Bescheid gewusst, sicher; aber er zog es vor, sich das Buch anzusehen.“
Das Buch, dass er sich anschaut, ist von einer gewissen Ines Wolken und jene steht dann vor ihm, genauer vor seiner Fußmatte, wenngleich sie sich nicht ad hoc als Verfasserin dieses selbstgedruckten Werks zu erkennen gibt, Leonie Palm alias Ines Wolken, hat in Lesekreis-Mission geschellt, denn sie möchte Reither überreden, ihrem geselligen Beisammensein als inspirierender Gast beizuwohnen. „Das Lesen führt uns zusammen, ja. Aber die meisten in unserem Kreis, sie schreiben auch.“ Reither steht da also, im Türrahmen, und er wiegelt Leonies Begehren ab. „Lesekreis wäre dann also ein Tarnname?“ Er fühlt sich angegriffen, denn „wussten sie, dass der immer verbreiterte Wunsch, den eigenen Namen nicht bloß am Türschild, sondern auch auf einem Buchumschlag zu sehen, der Tod des guten Buches ist?“
Dennoch finden Leonie (in einem Sommerkleid!) und Reither an diesem Abend zusammen und während sie rauchen, entspinnt in ihnen ein Plan. Sie wollen mit Leonies BMW-Cabrio trotz des Winters losfahren, Richtung Süden und es ist deutlich, dass diese Reise sich entwickeln wird zu einer tour d’amour.
„Er schaute in ein Gesicht von der Art, die einen daran denken lässt, wie es in früheren Jahren gewesen sein muss, bestürzend schön, einfach weil es immer noch etwas Bestürzendes hatte, mit Augen von einem bläulichen Grau, provisorisch getürmtem Haar im Ton von Pistazienschalen, einer soliden Nase, ihre Flügel jedoch zart, dazu ein blasser, voller Mund, voll wegen seiner Blässe; sie war jünger als er, dramatisch jünger.“
Die beiden beschließen, nach Italien zu fahren und wie so viele Geschichten deutscher Autoren heutzutage erst beginnen, wenn die Protagonisten das Land verlassen, so beginnt auch diese Erzählung, die vom Unheimlichen ins Heimliche gewechselt ist, mit der Grenzüberquerung, immer weiter Richtung Sizilien. – „Haben wir alles, Reither, Zigaretten, das Wasser, die Kekse, Geld? Fast schon eheliche Fragen.“
Die Zigaretten und Kekse sind jedoch nicht das einzige Gepäck, das sie mit sich führen. Beide sind emotional gekettet an eine Vergangenheit, bei ihrem Alter keine Verwunderung, liegt doch mehr Zeit hinter als vor ihnen. Beide haben Verluste zu beklagen. Kinder sind gestorben. Es gibt Beziehungsverletzungen, Erinnerungsnarben, Vergeblichkeitsmale. Reither hat seinen Verlag aufgeben müssen, Leonie besaß einst einen Hutladen – beides, das Lesen kleiner Schriften als auch das selbstverständliche Tragen von Hüten, sind aus der Mode gekommen. Man könnte daran verzweifeln – oder mit einem großen „Dennoch“ im Herzen aufbrechen, selbst wenn die Landschaft den Verfall bereits in sich trägt: „Bis zum Achensee hinter der Passhöhe brauchte man sogar mehr als eine Stunde, wenn er sich richtig erinnerte, also wäre es das Verkehrteste, den Sonnenaufgang dort abzuwarten, zumal die Sonne erst über Bergrücken steigen musste. Außerdem war es ein trostloser See, eingezwängt von Fels und Geröll (…)“
Leonie und Reither gehen, dem Sonnenaufgang entegegen auf die vielleicht letzte große Fahrt, die sich gestaltet wie man sich die je zweite Âventiure im doppelten Cursus hochmittelalterlicher Literatur vorstellen kann. Sie erleben das Vergangene, aber sie erleben es neu. Leonie und Reither hören alte Paul-Anka-Kassetten („All die schönen Sachen. Diana. You Are My Destiny, Crazy Love. Don’t Even Leave Me.“), übernachten in halbseidenen Herbergen, sprechen über das Altern, das schwache Herz, den drohenden Krebs, den gewissen Tod. Sie treffen auf Afrikaner, die aus ihrer Heimat ebenfalls geflohen sind, wenn auch aus anderen Gründen. Und dann treffen sie in Catania ein Mädchen. – „Es trug ein fetzenartiges Kleid, dazu Flipflops,, und um den Hals hing etwas wie eine Scherbe oder Muschelhälfte.“
Leonie und Reither werden die Namenlose mitnehmen, diese Streunerin, mit der sie sich nur gestisch verständigen können. Ein unbeschriebenes Blatt ist dieses Mädchen, das nun bei ihnen schlafen, das mit ihnen essen darf. „Ein Moment, der sich einprägen würde – er spürte es förmlich, an den Armen und dem verletzten Finger, als sich seine Haut verengte –, der Moment einer unwiderruflichen Aufforderung, komm, komm mit uns, wir nehmen dich auf, werd unser Kind, unsere Tochter.“
Da möchten zwei Menschen mit zu viel Lebensgepäck noch einmal von vorne anfangen und genau das macht „Widerfahrnis“ zu einem rührenden, stellenweise mit Kitschworten erzählten Buch. Doch ist dieser Kitsch keine Fahrlässigkeit von Autor Bodo Kirchhoff. Was hier geboten wird ist Rollenprosa und irgendwann wird man erfahren, dass der Erzähler dieser Geschichte Reither selbst ist, der seine Geschichte mit gewohntem Lektorenblick von außen zu beschreiben sucht; der aber auch versucht in Worte zu fassen, was ihn auf der Italienreise fassungslos gemacht hat, so die Nähe zu Leonie, echte Intimität, auch geschlechtlicher Natur, ebenso ein Gefühl von letzter Zugehörigkeit, von Aufbruch, von Hoffnung – die jedoch, man ahnt es von Beginn an, in eine Passion, in einen Leidensweg münden wird.
Es ist insbesondere dieses Kapitel, eines der letzten, das herausgehoben werden muss. Denn da sitzt Reither allein auf schwarzen Steinstufen und er fühlt sich nicht nur von Leonie und dem Mädchen, sondern von der gesamten Welt verlassen. „Er griff nach der Flasche und dem Korkenzieher und drehte den Dorn mit der heilen Hand in den Korken, die Flasche zwischen den Knien. Von der Meerenge wehte ein Wind, noch nicht kalt, nur auch nicht mehr mild, etwas dazwischen, für das ihm ein Wort fehlte. Auf der Seite gegenüber die Lichter von Messina, alles erschien ganz nah – würde der Ätna ausbrechen, man könnte es sehen, vielleicht würde sogar der Boden unter ihm zittern. Reither packte den Korkenziehergriff aus Plastik und zog daran, aber zog nur die Flasche zwischen den Knien hervor. Er unternahm einen zweiten Versuch, die Flasche nun zwischen den Schenkeln, Beine über Kreuz, eine Klammer, und wieder zog er sie mit, die Flasche, und der Korken blieb, wo er war, machte den Wein unerreichbar.“
Reither wird sich an der Hand verletzten und man liest zunächst ungläubig, doch es kann nicht anders sein: da drängt sich auf, im Dorn des Korkenziehers die Dornenkrone Christi zu erkennen, in Reithers blutender Hand die Wundmale des Gekreuzigten und nicht zufällig sind gegenüber die Lichter der sizilianischen Statt Messina; Reithers Beine über Kreuz, sogar der Satz, man kennt ihn aus der Verhöhnung, die Jesus erleiden musste: „Er hat anderen geholfen, und kann sich selber nicht helfen.“ Das ist fein und nicht in jener Weise auserzählt, wie einige andere Stellen von „Widerfahrnis“, wenn man doch längst verstanden hat, dass der afrikanische Fischer mit Namen Taylor und seine Familie klar an Maria, Josef und Jesus angelehnt sind, dies aber unbedingt erklärt werden muss: „Er kam einfach nicht umhin, auf diesem verlassenen Platz mit den schwärzlichen Treppenstufen zum Wasser der Meerenge, ein biblisches Bild aus Kinderzeiten zu sehen, auch wenn in der Decke ein Mädchen lag, kein erstgeborener Sohn, und Taylor ein Fischer war, kein Zimmermann.“
Es sind die jene Schwächen in „Widerfahrnis“, die entweder dem Erzähler oder dem Autor angelastet werden können, die zugleich die Größe dieser verschachtelten Geschichte vice-versa spiegeln, dazu gehörend auch die für Kirchhoffs Literatur typischen, doch im Jahr 2016 anachronistisch anmutenden Rollenbeschreibungen: „Ein Rucken ging durch die Fähre, das war schon das Rucken ans Festland, und wer im Auto geblieben war, ließ den Motor an, also ließ auch Reither den Motor an, raffte sich dazu auf, wie man sich aufrafft für einen neuen Tag, das Herz noch unbekannten Tröstungen entgegenwirft, in der Art verlassener Frauen, wenn sie anfangen zu schreiben, ihr Herz in die Hand nehmen, aber vielleicht wird ja jeder Verlassene vorübergehend weiblich, wer weiß.“
Sind wir da wieder in jener Frankfurter Bahnhofsviertelatmosphäre der 1970er und 80er, die Kirchhoff zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere mit machistisch hingeklotzen Wörtern beschrieben hat? Liegt die Bedingung dieser Liebe zwischen Reither und Leonie im geschlechtlichen Binärcode? Oder ist es nicht eher so, dass „Widerfahrnis“, dieser große Sehnsuchtstext, eben nicht nur eine Liebe und die Wiedergutmachung des Vergangenen ersehnt, sondern eine Zeit, in der Männer den Verlag und Frauen die Boutique führten, wo selbst sprechende Namen – da sind wir wieder bei Thomas Mann – goutiert wurden? – Der Reit(h)er, der die Löwin (Leonie) nicht zu bändigen weiß.
Altmodisch ist Bodo Kirchhoffs „Widerfahrnis“, durchaus im altmeisterlichen Stil erzählt, weshalb die Gattungsbezeichnung „Novelle“ passt, es ist auch eine Erzähl-Erzählung, die sich ihrer Literarizität permanent bewusst ist: „Ich denke nicht gern zurück.“ – „Aber kommt es nicht in den meisten besseren Büchern vor, dass jemand zurückdenkt?“ – „Ja, aber wie Sie selbst festgestellt haben; wir sind hier in keinen Buch.“ Wer 2016 seine Erzählung eine Novelle nennt, der darf auch von Männern und Frauen an sich sprechen, der darf sein Herz auf geradezu romantische Weise offenlegen und beschauen. „Widerfahrnis“ ist kein Kitsch, keine Sekunde lang, nur der Hauptfigur, diesem sich selbst „Idiot der Liebe“ Nennenden, werden die ganz großen Empfindungen spendiert, was sein darf, gleichgültig, wie alt der Autor ist. Es gibt ihn also noch, den unironischen Blick auf die Welt – nur muss man raus, beispielsweise mit dem BMW, wie Reither und Leonie, Richtung Italien, in die Vergangenheit hinein.
Bodo Kirchhoff: „Widerfahrnis“, FVA, 226 Seiten, 21 Euro / Das Autorenfoto ist von Laura J. Gerlach / Hier kann man den Radiobeitrag aus der Deutschlandfunk-Sendung „Büchermarkt“ nachhören