Dennis Lehane ist bekannt für seine hartgesottenen, gleichzeitig sehr psychologischen Thriller. „Mystic River“ und „Shutter Island“ wurden erfolgreich fürs Kino verfilmt. Sein neuer Roman „Sekunden der Gnade“ ist möglicherweise das letzte Buch vom gerade einmal 58-jährigen Bestsellerautor – er möchte sich der Arbeit beim Film widmen. So tritt er ab mit einem Paukenschlag.
Es gibt keinen Frieden im Hass. Das zeigt Dennis Lehane seit Jahrzehnten in seinen Romanen, die immer wieder Feindseligkeit als todbringendes Geschwür vorstellen, am eindringlichsten vermutlich in „Mystic River“. Das Verschwinden einer tatsächlich ermordeten Frau führt dort im Boston der 1990er Jahre zu einem tragisch inszenierten Gewaltexzess. Thematisch und räumlich verwandt mit „Mystic River“ ist Lehanes neuer Roman „Sekunden der Gnade“, der wiederum in Boston und erneut vom Verschwinden einer Tochter berichtet – allerdings zwanzig Jahre früher, im Spätsommer des Jahres 1974.
Kurz zuvor hatte ein US-Bezirksrichter die strukturelle Benachteiligung schwarzer Schüler festgestellt. Fortan wurden Kinder aus überwiegend weißen Stadtteilen mit Bussen in überwiegend schwarze Stadtviertel gebracht – und umgekehrt. Die Rassentrennung an öffentlichen Highschools sollte mit dieser wechselseitigen Verschickung aufgehoben werden. Dieser Teil der Geschichte ist real. Es gab damals erbitterten, überwiegend rassistisch motivierten Widerstand gegen das sogenannte „bussing“.
„Der Roman handelt von dieser Zeit. Und vielleicht auch von der Zeit, in der wir leben. Es geht um die Suche einer Mutter nach ihrer Tochter in den verrückten letzten Tagen des Sommers 1974 in South Boston, als ein erster Schultag bevorstand, der sich, je nachdem, auf welcher Seite man stand, wie die lange aufgeschobene Erfüllung eines Versprechens ausnahm oder wie die Pointe eines Witzes, den niemand lustig fand.“
Verbittert in geldknappen Verhältnissen
Schreibt Dennis Lehane in der Vorrede seines Romans, bevor seine schmerzhafte Parabel beginnt die von einer alleinerziehenden, irischstämmigen Mutter berichtet, von Mary Prat aus Boston. Sie arbeitet als Krankenhaushelferin im Meadow Lane Manor in Bay Village. Ihren einst drogenabhängigen Sohn hat sie bereits beerdigen müssen. Von ihrem Partner wurde sie verlassen, auch, weil ihm Mary Prats rassistischer Hass peinlich gewesen war. So lebt sie verbittert in geldknappen Verhältnissen, zusammen mit Jules, ihrer Tochter.
„Sie sind arm, weil es nur ein bestimmtes Maß an Glück auf der Welt gibt und sie nie welches abbekommen haben. Wenn es nicht vom Himmel fällt und auf dir landet, dich nicht findet, wenn es morgens aufwacht und schaut, an wen es sich hängen kann, stehst du da. Es gibt weit mehr Menschen auf der Welt als Glück, also bist du entweder zur rechten Zeit am rechten Ort, genau in der Sekunde, in der sich einmal und nie wieder das Glück zeigt. Oder Pustekuchen.“
Jules, die Tochter, steht vor ihrem letzten Highschooljahr. In ihrer Freizeit hängt sie mit zweifelhaften Typen ab, mit Dealern und Schlägern. Manchmal fragt sie sich, ob ein anderes Leben möglich wäre. Zu jener Zeit verwirklichen sich zahlreiche Emanzipationsbewegungen im Zuge der 68er-Revolte und zeigen eben diese Möglichkeiten anderer Lebensweisen. Dass allerdings Schülerinnen und Schüler aus überwiegend schwarzen Vierteln auf Schulen in vornehmlich weißen Vierteln geschickt werden sollen, führt in Jules’ Umfeld zu erbittertem Widerstand.
„Und unsere Bräuche, unsere Lebensweise, unser Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit? Das bekommen wir für kein Geld zurück. Was erst mal weg ist, kann man sich nicht zurückkaufen. Und das alles verschwindet in dem Moment, wo ihr den allerersten Bus auf unsere Highschool zusteuern seht.“
Die rassistische Justiz
Sagt eine Sprecherin während einer aufgeheizten Demonstration gegen die höchstrichterlich angeordnete Verschickung. Und die so deutlich artikulierte Angst vorm Abhandenkommen einer Lebensweise wird in einem ganz anderen Verschwinden gespiegelt. Jules ist nach einem ihrer Cliquentreffen fortgeblieben und seitdem unauffindbar. In der gleichen Nacht wurde ein schwarzer Student zu Tode gehetzt. Jules wird des Mordes verdächtigt.
„Vier schwarze Jugendliche, die einen weißen vor einen Zug treiben, müssten mit Lebenslänglich rechnen. Bekannten sie sich schuldig, würden bestenfalls zwanzig Jahre strenger Haft daraus. Aber den Kids, die Auggie Williamson vor den Zug gehetzt hatten, drohten nicht mehr als fünf Jahre. Höchstens.“
Jules’ besorgte Mutter macht sich gewaltbereit und dann auch tatsächlich zuschlagend auf die Suche nach ihrer Tochter. Während dieser „tour de force“ muss sie allerdings erfahren, wie ihr Hass nicht nur das Leben anderer Menschen bedroht, sondern auch ihr eigenes. Toni Morrison, die schwarze Nobelpreisträgerin, hat bereits 1983 in „Rezitativ“ das sogenannte „bussing“ äußerst feinsinnig thematisiert. Da ist Dennis Lehanes „Sekunden der Gnade“ vom ganz anderen Schlag – hard boiled, cineastisch szenenhaft, deutlich moralisierender als Morrison. Sein neuer Page-Turner stellt Rassismus im 16:9-Format vor. So wird „Sekunden der Gnade“ zum Sittenbild eines dunklen Kapitels us-amerikanischer Geschichte. Es braucht auch diese „littérature engagée“ eines Erfolgsschriftstellers wie Dennis Lehane, um noch einmal die alte, biblische Hiobsklage anzustimmen, als Fanal: „Denn was ich gefürchtet habe ist über mich gekommen, und was ich sorgte, hat mich getroffen.“
Dennis Lehane: „Sekunden der Gnade“, aus dem amerikanischen Englisch von Malte Krutzsch, Diogenes, Zürich, 400 Seiten, 25,70 Euro