Relativ groß ist die Debatte um Charlotte Gneuß’ Debütroman „Gittersee“, der die Geschichte einer jugendlichen Stasi-IM erzählt. Gneuß wurde nach sehr viel Lob auch eine fehlerhafte Faktentreue vorgehalten. Dieses Vorgehen erinnert wiederum selbst an den Kulturapparat der DDR, wo bereits ein Schriftsteller wie Hartmut Lange gegängelt wurde, weil seine Bauern – anders als in der Wirklichkeit – in Versen gesprochen haben.
Die falbe Melancholie von Thomas Brussigs „Wasserfarben“ und das Schwarz-Grau aus Henckel von Donnersmarcks „Das Leben der Anderen“ amalgieren in Charlotte Gneuß’ auffallendem „Gittersee“-Debüt. Die Geschichte, angesiedelt in gleichnamigen DDR-Stadtteil, stellt während des Sommers 1976 nicht „Die Legende von Paul und Paula“ (wie im gleichnamigen Film von Heiner Carow), sondern jene von Paul und Karin vor, Teenager, deren Liebe an den einengenden Gegebenheiten der Deutschen Demokratischen Republik zerbricht.
„Komma“ nennt Paul seine Freundin liebevoll. Kommas seien „die Wendepunkte der Gedanken“, heißt es später. Und für einen dieser Wendepunkte steht diese plastisch gezeichnete Heldin Karin „Komma“ Köhler. Gleich zu Beginn flieht Paul über die hier nur „Tschechei“ genannte Tschechoslowakei in den Westen und hinterlässt seine Freundin, die fortan die Kälte des Systems kennenlernt.
Die Stasi-Beamten Wickwalz und Hamm nehmen sie mit aufs Revier, „nur Routinefragen hatte Wickwalz gesagt. Er hatte mir aufmunternd zugelächelt. Ich zog den dünnen Mantel über die Knie. Wenn es wenigstens eine Decke gegeben hätte.“ Sie wird entlassen. Doch ihr pubertäres Leben ist fortan in absoluter Unordnung. „Beim Abendessen klapperten die Löffel in den Schüsseln. Wo Oma saß, hatte Wickwalz gesessen. Wo Vater saß, hatte Hamm gesessen. Wo Mutter saß, hatte Vater gesessen.“
Ein Wendepunkt der Gedanken
Eben jener Sprunghaftigkeit entsprechend, wechseln die Szenen dieses nervenaufreibenden Hochsommers. Die Ehe von Karins Eltern kriselt, der Vater trinkt viel zu viel Alkohol, Schulfreundschaften werden neu verhandelt, unklar ist, ob Paul überhaupt noch lebt. Im hundert Kilometer entfernten Zeitz zündet sich Pfarrer Brüsewitz an und schafft ein Fanal, das rückblickend wie ein Anfang vom Ende der DDR erscheint, wie ein weiterer Wendepunkt der Gedanken.
Doch: „In der Schule war es wie immer.“ Das Sommerklima erscheint bleiern – und in dieser schon klimatisch drückenden Atmosphäre wird Karin von der Staatssicherheit bedrängt, bis sie eine fürchterliche Entscheidung trifft. Nicht von sich, sondern vom „Leben der Anderen“ wird hier berichtet, von Teenagern, die jung waren, sechszehn Jahre bevor ihre Autorin Charlotte Gneuß im westdeutschen Ludwigsburg geboren wurde.
Die 31-Jährige hat für dieses Debüt recherchiert und mit ihren eigenen Eltern gesprochen, die vorm Mauerfall in den Westen gegangen sind. „Ich glaube, dass wir endlich anfangen sollten, in unseren Familien Fragen zu stellen. Wo wart Ihr damals? Was habt Ihr vor 1989 gemacht?“, sagte sie im F.A.Z.-Interview am 26. Oktober dieses Jahres.
Wie vorm Eingang der Hölle
Gneuß hat eine DDR-Geschichte ersonnen, die auf einer Ebene die bedrohliche, vor allem für heutige Zeitgenossen auch befremdliche Enge eines Überwachungsstaats nachfühlt, auf einer anderen das Porträt einer sechszehnjährigen, im ersten Liebeskummer steckenden jungen Frau zeichnet, und dabei jede Figur mit dezenter Ernsthaftigkeit anschaut.
„Verlassen sind wir doch wie verirrte Kinder im Walde. Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von den Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüßtest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem Eingang zur Hölle.“
Dieses Zitat aus einem Brief Franz Kafkas an den österreichischen Kunsthistoriker Oskar Pollak vom 8. November 1903 ist „Gittersee“ vorangestellt. Damit wird ein spezifisches Verfahren der literarischen Annäherung und Einfühlung beschrieben. So würdigt die Figur von Karin „Komma“ Köhler die Ambivalenz einer jugendlichen Frau, die versucht, leicht zu bleiben, obwohl ihr unterstellt wird, sie habe „Beihilfe zur Republikflucht“ geleistet, obwohl sie vom besten Kumpel ihres verschwundenen Freundes unter Druck gesetzt, von den Eltern in die Hausarbeit und Betreuung der erst zweijährigen Schwester eingespannt wird – und obwohl der Liebeskummer kaum aushaltbar erscheint.
Paul taucht in ihren Träumen auf, immer wieder schieben sich Erinnerungen an den Verschwundenen über den gewöhnlichen Tagesablauf einer Sechszehnjährigen die zur Schule geht, später die Sommerferien genießt, die Partys besucht, sich schminkt, nach Willen der Mutter keinen String-Tanga, sondern einen gewöhnlichen Schlüpfer anziehen soll, die mit ihren Freundinnen kuschelt – „Wie selbstverständlich sich ihre Körper berührten. Immer lagen Hände auf Knien, Füße auf Schenkeln, immer lehnten Köpfe an Schultern, Rücken an Rücken. Beim Zusehen dachte ich an Paul“ – die einkaufen geht, mit der kleinen Schwester herumalbert und in stilleren Momenten, nun, sie ist 16, masturbiert, dann wieder Jungs auf dem Pausenhof mit kessen Sprüchen abwehrt, daheim mal sorgenvoll, mal wütend auf die Erosion der elterlichen Ehe reagiert. „Weißt du“, sagt die unglückliche Mutter irgendwann, „ich bin eigentlich ein völlig anderer Mensch.“ All dies könnte in ähnlicher Weise auch 2023 spielen.
Kommunistisch vermurkst
Doch es gibt neben der Traumwelt um Paul und dem leichteren Alltag eine düstere Ebene – das Verhältnis zu ihrem Führungsoffizier Wickwalz, der Karin als Inoffizielle Mitarbeiterin einspannt, so wie der DDR-Staat auch auf anderen Ebenen unbotmäßig in jugendliches Leben eingegriffen hat. Man denke nur an die zahlreichen Doping-Opfer, die teilweise noch heute unter der heimlichen Vergiftung mit Oral-Turinabol leiden – für die sich die Schriftstellerin und ehemaligen Leichtathletin Ines Geipel einsetzt, beispielsweise mit ihrem 2001 erschienenen Buch „Verlorene Spiele. Journal eines Doping-Prozesses“.
Düster und kalt ist die Figur des Hauptmanns Gerd Wiesler in Florian Henckel von Donnersmarcks „Das Leben der Anderen“ beschrieben – 2007 ausgezeichnet mit dem Oscar in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film. Gneuß’ Stasi-Mann Wickwalz ist vielschichtiger angelegt, als Porträt eines Familienvaters und Spießbürgers, der seine Freiheit im Motorradfahren und Musikhören sucht, tatsächlich an die Notwendigkeit eines sozialistischen Systems glaubt, und der versucht, eine reine Lehre vorzuleben. Er ist ein Überzeugungstäter, der das Schlechte tut, um etwas vermeintlich Gutes zu erreichen.
Ihm gegenübergestellt: die ebenfalls im Hause Köhler lebende Großmutter, die nicht möchte, dass ihre zweijährige Enkelin in die Krippe kommt, dort würden die Kinder „kommunistisch vermurkst“. Sie ist es auch, die Karin warnt: „In der Schule lernst du eine Geschichte, die aus dem Radio kommt und in der Zeitung steht. Das alles ist eine Lüge.“ Man denkt unweigerlich an das noch heute in Ostdeutschland überproportional vertretene Misstrauen gegenüber der Medienlandschaft und einem Staatsapparat, der sich einer vermeintlich falschen Sache verschrieben hat, um seine Bürger unbotmäßig zu erziehen.
Der kleine Vater
Das Porträt des alkoholkranken, sichtlich von der Ehekrise überforderten Vaters ist Gneuß ebenfalls sehr einfühlsam gelungen, gerade die Passage, in der sie an dessen Kindheit erinnert und ihn dort den „kleinen Vater“ nennt. „Gittersee“ ist daher ein Roman, der viel weiß Du von den Schmerzen, die in seinen Figuren ist und so nachdenklich, so liebend vor ihnen steht wie vor dem Eingang zur Hölle.
Das Debüt wurde positiv besprochen und doch wenig später kritisiert – da stand es bereits auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Irgendwer hatte durchgestochen, dass Schriftsteller Ingo Schulze gegenüber dem Lektorat des gemeinsamen Verlags S. Fischer 24 Punkte an „Gittersee“ bemängelt hatte, vermeintliche Ungenauigkeiten in Lebensweise und Sprachgebrauch in der damaligen DDR. So wird von Plastiktüten statt von Plastebeuteln gesprochen, es wird „lecker“ gesagt und berichtet, dass die Teenager in der Elbe schwimmen, obwohl der Fluss damals heillos verdreckt gewesen sein soll.
„Darf sie das?“, fragte die F.A.Z.-Feuilletonchefin Sandra Kegel am 15. September dieses Jahres, „darf eine Autorin, die 1992 in Ludwigsburg zur Welt kam und also nach der Wende tief im Westen sozialisiert wurde und die DDR Vergangenheit nicht aus eigener Anschauung kennt – darf sie einen Roman schreiben, der in den Siebzigerjahren in Dresden spielt? Sie, die weder Stasi-Verfolgung erlebt hat noch auf einer DDR-Schule die Lehrer ‚Direktorenzimmer’ oder ‚Rektorat’ sagen hörte.“
Die Debatte um einen streng einzuhaltenden Realismus, der die DDR-Wirklichkeit 1:1 abzubilden habe, betrifft weniger den Bereich der „kulturellen Aneignung“, sondern wiederholt vielmehr Erwartungen, wie sie schon hinter dem Eisernen Vorhang an Künstlerinnen und Künstler herangetragen wurden. Hartmut Lange, der Mitte der 1960er Jahre in die BRD „rübergemacht“ hat, erinnert sich an jene SED-Funktionäre, die sein Stück „Marski“ kritisiert haben. In „Meine Realitätserfahrung als Schriftsteller“ klingt das Verhör, „das mir beweisen sollte, daß das Stück alles andere als realistisch sei“ unfreiwillig komisch: „’Das Stück spielt auf dem Lande?’ / ‚Ja.’ / ‚Waren Sie schon einmal auf dem Lande?’ / ‚Ja.’ / ‚Haben Sie einen Bauern sprechen hören?’ / ‚Ja.’ / ‚Sprach er in Versen?’ / ‚Nein.’ / ‚Na also.’“
Das Bad in der Elbe
Auch wird seit längerer Zeit selbst in Dissidentenkreisen über die „richtige“ Erinnerung an die DDR und die gemäße Aufarbeitung des Regimes gestritten (worüber der Deutschlandfunk vor wenigen Tagen in einem hörenswerten Feature berichtet hat). Gegen die Verse im Bauernstück „Marski“ sind die poetischen „Gittersee“-Freiheiten zaghaft – und dass diese vermeintlichen Fehler beabsichtigt sind, sagte Charlotte Gneuß im besagten F.A.Z.-Interview. Sie erklärte, dass eine Formulierung wie „passt schon“ als „ein klarer Verweis auf die Gegenwärtigkeit meines Stoffes“ gemeint ist und dass die Erfahrungen ihrer Eltern (1960 und 1962 in Dresden geboren) eben nicht deckungsgleich sind mit denen des ebenfalls 1962 in Dresden geborenen Ingo Schulze: „Sie sind nicht in der Stadt aufgewachsen, sondern in den Vororten von Dresden, das war eine andere Welt. Da hat man ‚lecker’ gesagt und ist in der Elbe geschwommen. Meine Eltern sind damals viel geklettert. Und wenn sie dann verschwitzt waren, freuten sie sich über das Bad im Fluss.“
„Gittersee“ ist also aus einer bewussten, poetischen Entscheidung heraus beides, sowohl Dichtung, als auch Wahrheit, keine Über-, sondern eine Neuschreibung einige jener Geschichten, die in den ersten 33 Jahren nach der Wende von ostdeutschen Autorinnen und Autoren wie Thomas Brussig, Monika Maron, Christoph Hein und Ingo Schulze geschrieben wurden – und damit ist dieses Debüt selbst nicht weniger als ein Komma, ein weiterer Wendepunkt der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Charlotte Gneuß: „Gittersee“, S. Fischer, 240 Seiten, 22 Euro