Der 77-jährige Schweizer Franz Hohler schreibt seit jeher nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder – beides mit großem Erfolg, weshalb er sich einreiht in eine Riege von Kolleginnen, die es genauso machen wie er, von Erich Kästner über Ilse Weber zu Erika Mann, Michael Stavaric und Alexa Hennig von Lange. Franz Hohler kann auch deshalb beide Zielgruppen bedienen, weil seine Sprache klar und elastisch ist, sein Blick nie verrätselt, seine Sätze in keinem Fall gesucht. Das beweist er auch in seiner jüngsten, sehr, sehr schmalen Veröffentlichung von Reisebetrachtungen, die erschienen sind unter dem Titel „Fahrplanmäßiger Aufenthalt“.
Selbstverständlich kann man sich fragen, ob 18 Euro für ein schmales Buch angemessen sind, wie bei Franz Hohlers neuer Veröffentlichung „Fahrplanmäßiger Aufenthalt“, das auf kleinstem Raum 43 Anekdoten, Erinnerungen und Miniaturen versammelt, die Titel tragen wie „Dichterleben“, „Usbekistan“ oder „Die Geschenkkarte“. Es sind, nach Abzug des Weißraums, 80 Druckseiten, die von Reisen nach Kiew, Tübingen und Kenia berichten, von Alltagsskurrilitäten, von Paaren und Passanten, die sich im Wortsinne merkwürdig verhalten, merkwürdig wie jener Mann, der sich am Moskauer Flughafen von seiner Frau und seinem Kind verabschiedet.
„Er, der Hüne, fuhr sich mit der Hand immer wieder über die Augen, auch über Wangen und Mund, um sich etwas wegzuwischen, und was es wegzuwischen gab, waren seine Gefühle, und er wollte nicht, dass seine Frau sie sah, seine Frau, die angespannt wartete, ob er sich nochmals umdrehe, damit sie ihm ein letztes Mal winken könnte, aber der Hüne verschwand in der Abflughalle, ohne ein einziges Mal zurückzublicken.“
Wein für 200 Franken
Vielleicht fühlt man sich angesichts des Preis-Seiten-Verhältnisses erinnert an die ebenfalls in diesem Band geschilderte Anekdote über jene Coop-Geschenkkarte, die Hohler als Lesungshonorar erhält. Sie besitzt einen Wert von 200 Franken, Doch erst an der Kasse erfährt er, dass dieses Guthaben nur online gültig ist.
„Während der nächsten Sekunden, in denen ich die Überraschung verarbeiten musste, überlegte ich mir, was es bedeuten würde, den Kauf zu stornieren und die Flaschen wieder auf das Aktionsregal zurückzubringen, musterte die Schlange der Kunden und Kundinnen hinter mir, sagte dann lächeln: ‚Ach so’, und überreichte der Kassiererin zwei Hunderternoten, die ich für einen größeren Einkauf bei mir hatte, lud die Flaschen in mein Einkaufswägelchen und machte mich auf den Heimweg.“
Das alte Newsletter-Problem
Der Autor könnte verärgert reagieren, ungehalten, betrübt – doch er wird den Wein in gemütlicher Runde mit seiner Nachbarin leeren. Sie werden anstoßen auf ihre gute Nachbarschaft, und für die 200 Franken-Karte wird er im Internet neuen Wein erstehen, sich durch ein Gestrüpp von PIN-Codes, Kundennummern und sechzehnstelligen Kartenziffern kämpfen, sich am Ende belustigt geben angesichts eines Restguthabens von 1.40 Franken, „das noch 36 Monate gültig ist, ich habe also genügend Zeit, mir ein Säcklein Pommes Chips oder eine Tafel Schokolade nach Hause bringen zu lassen. / Der Satz des Tages / Sie haben sich erfolgreich vom coop@home Newsletter abgemeldet.
Freilich klingen diese Szenen brav, man will sie im österreichischen Sinne als „urlieb“ charakterisieren. Doch zwischendurch erscheinen dunkle Brüche, wie bei jenem titelgebenden fahrplanmäßigen Aufenthalt eines Regio-Express-Zugs in Schwäbisch-Hesseltal, wo eine Gedenktafel auffällt, die angebracht worden ist für jene KZ-Häftlinge, die 1945 auf einem Todesmarsch nach Dachau geschickt wurden.
Zu Lebzeiten zwei Gedichte
In Russland wiederum wird der Erzähler plötzlich an das Schicksal des russischen Dichters Daniil Charms erinnert, dessen verzweifelt absurde Kurzgeschichten erst posthum kanonisch geworden sind: „In St. Petersburg werden ganze Abende damit veranstaltet, aber zu Lebzeiten hat er bloß zwei Gedichte veröffentlichen können, wurde kurz vor der Belagerung der Stadt verhaftet, kam ohne Anklage ins Gefängnis und ist dort im Februar 1942, als ganz Petersburg hungerte, gestorben.“
Der Einbruch des Schreckens ist bei Franz Hohler mehr als ein dramaturgischer Kniff, der installiert wird, um den Erzählanlass seiner Geschichtchen wenigstens formal zu rechtfertigen. Der Einbruch des Schreckens ist in „Fahrplanmäßiger Aufenthalt“ vielmehr Bedingung der Möglichkeit zum Kairos, der darin besteht, sich als Mensch zu erfahren, als Mensch zu beweisen, als Mensch auf die Welt zu blicken.
Das Leben mit 116
Da will der Erzähler sein Konto bei einer Großbank auflösen und die Bedienstete fragt ungläubig, ob sein hier eingetragenes Geburtsdatum stimmen könnte: „Sie lächelt ein bisschen verlegen, blickt nochmal auf ihren Bildschirm und rückt dann mit meinem wahren Alter heraus: ‚1.1.1901.’ Dann sei ich aber noch erstaunlich fit, sage ich, und als sie das richtige Datum eingetragen hat und ich das Formular unterschrieben habe (…) sehe ich beim Aufstoßen der Glastür mein etwas verzittertes Spiegelbild und trete aufatmend hinaus, dankbar, dass ich mit meinen 116 Jahren immer noch furchtlos die Straße auf dem Fußgängerstreifen überqueren kann.“
Die Dankbarkeit, die der Erzähler hier verspürt, kann die herzoffenen Leserinnen zugleich erfassen, wenn sie sich einlassen auf Hohlers Geschichten, wenn sie die winzigen, beinah nichtigen Absurditäten in sich aufnehmen. So haben wir in Hohlers „Fahrplanmäßiger Aufenthalt“ mehr Genuss pro Gramm, als es der Umfang zunächst vermuten lässt. Wir haben, wie in diesem Buch, die Schönheit der Chance, heiteren Blicks der Welt zu begegnen.
Wir nehmen auf menschenfreundliche Weise diese ebenso fahrplanmäßigen wie unfreiwilligen Aufenthalte nicht als ärgerliche Störung des Reisewegs hin, sondern als Zeit, die verschenkt wird – um für einen kurzen Augenblick inne zu halten. Mit Franz Hohler als Reisegefährten werden diese Aufenthalte in der Tat wertvoll.
Franz Hohler: „Fahrplanmäßiger Aufenthalt“, Luchterhand, München, 112 Seiten, 18 Euro / den Audiobeitrag zum Nachhören gibt es hier.