„Wie die Gorillas“ erzählt das Aufwachsen einer Frau als konsequente Körperbeobachtung. Debütantin Esther Becker arbeitet seit vielen Jahren als Dramatikerin und Performerin, darunter mit Stücken wie „Cowboy ohne Pferd“ 2013, „Das Leben ist ein Wunschkonzert“ 2020 und „Supertrumpf“ von 2015. Warum „Wie die Gorillas“ lesenswert ist:
Irgendwann üben die Schauspielanfängerinnen Olga, Svenja und die Ich-Erzählerin Hosenrollen, also jene Travestiedarstellung, in der Frauen einen Mann verkörpern. Sie binden ihre Brüste ab, ziehen zwei Sport-BHs übereinander und obwohl es kratzt und juckt, laufen sie danach beschwingt durchs Quartier.
„Wie die Gorillas“, schreibt Esther Becker, „stolzieren wir noch ein paar Blocks.“ Die jungen Frauen fühlen sich frei, weil sie an diesem Abend die Blocks ohne die Blicke der Anderen umrunden, und fern erscheint in diesem Moment auch jener erste Übergriff, der zu Beginn des Romans geschildert wird: „Zu viert müssen sie mich festhalten. Vielleicht auch zu fünft. Ob ein Paar der vielen Hände zu meinem Vater gehört, ist nicht sicher, meine Augen sind fest verschlossen.“
Sie wird niedergerungen
Hier wird nicht von einer sexuellen, sondern von einer anderen Form der Gewaltanwendung berichtet. Die Ich-Erzählerin ist in diesem Moment ein Kind. Augentropfen sollen verabreicht werden. Sie wird niedergerungen und die Ich-Erzählerin weiß seitdem, dass über ihren Körper verfügt werden kann, dass sie nur selten Macht haben wird über ihr eigen Fleisch und Blut, wenn sie nicht den Weg der weiblichen Selbstermächtigung wählt. „Wir machen es alle.“ – Auch hier geht es keinesfalls um das, was ad hoc vermutet werden kann, es geht nicht um Masturbation, sondern: „Wir setzen uns mit den Rücken an die Wand, wir pressen uns die Hände an die Halsschlagadern, wir hyperventilieren, bis es uns wirr wird, und dann Gutnacht.“
Wenn deine Kinder Frauen werden
Als Schülerinnen bringen sich die jungen Frauen zur Ohnmacht, bis der Krankenwagen kommt. Kurze Vignetten wie diese werden im schnellen Wechsel gezeigt; der blutende, der wehrhafte, der schauspielernde, der arbeitende, der fremd und sich selbst bewertete Körper. Larmoyanz erlaubt sich dieser Roman an keiner Stelle, ein wenig Pathos durchaus, wenn der Blick vom Eigenen gedreht wird beispielsweise hin zu jenen, die diesen Körper beobachten, Väter inklusive.
„Was machst du, wenn deine Kinder Frauen werden? Wenn deine Kinder Töchter sind und Frauen werden, was machst du dann? Wenn deine Töchter keine Kinder bleiben wollen (wie du insgeheim hofftest), sondern in die Höhe schießen und in die Breite. Wenn sie aufgehen, sich in alle Richtungen ausdehnen, sich auflehnen gegen den einst so genügsam schmalen Kinderkörper, diesen feinen kleinen Kinderkörper, der noch nicht unter den Armen stank und auch nicht zwischen den Beinen.“
Intersektionaler Feminismus
In solchen Augenblicken ist die Theaterarbeit Esther Beckers immanent, der Roman wird zum Sprechtext. Permanent, so scheint es, drängt „Wie die Gorillas“ zur Bühne. Die 1980 in Erlangen geborene Autorin weiß als Dramatikerin, dass stets das „show, don’t tell“-Diktum gilt. Gekonnt stellt sie ihr Debüt auf gleichsam performative Weise in einen höheren Dienst.
„Ich würde mich als Queerfeministin bezeichnen. Ich glaube auf jeden Fall daran, dass Feminismus intersektional sein muss, und ich habe natürlich jetzt einerseits mit meiner Theaterarbeit, auch der praktischen, da geht es auch viel darum, natürlich die Produktionsbedingungen, also nicht nur quasi die Texte, nicht nur das Kunstwerk an sich kann eine politische Aussage haben, sondern es ist auch sehr wichtig, sich immer auch die Produktionsbedingungen anzuschauen, die Machtverhältnisse; wie möchte man arbeiten, wie will ich arbeiten…“
Tierisch gut zu lesen
Das sagt Esther Becker im Deutschlandfunk-Gespräch, verortet sich damit in einer demokratischen Selbstermächtigungsströmung, die aktuell zu den herausgehobenen Erscheinungen des kulturellen Feldes gehört. Doch ihre Geschichte funktioniert auf erster Ebene ohne Kenntnis intersektionaler „Tomboy“-Diskurse. Esther Beckers literarische Körperpolitik wurzelt zwar ebenso bewusst wie tief in den identitätspolitischen Anfängen der Philosophie Michel Foucaults. Doch am Ende des Buchs, am Anfang dieser literarischen Karriere bleibt die Erkenntnis, dass „Wie die Gorillas“, Foucault hin oder her, tierisch gut zu lesen ist.
Esther Becker: „Wie die Gorillas“, Verbrecher Verlag, Berlin, 160 Seiten, 19 Euro (das obige Beitragsbild hat Esther Becker gemacht)