Der Schweizer Bestsellerautor Peter Stamm veröffentlicht gerade einen psychotischen Corona-Stalking-Roman. „Das Archiv der Gefühle“ ist ebenso zeitenthoben komponiert wie stilisiert, doch zugleich unserer 2020/21er Lockdown-Gegenwart abgetrotzt.
Die Einsamkeit gehört zur Lockdown-Gegenwart und wird nun zunehmend literarisches Sujet. Analog zum Monodrama im Theater denken Schriftsteller und Philosophen wie Rüdiger Safranski mit „Einzeln sein“ oder Daniel Schreiber mit „Allein“ in ihren aktuellen Büchern nach über die Einsamkeit, über die Solo-Momente eines jeden Lebens. Literarisch zeigt Peter Stamm mit seinem „Das Archiv der Gefühle“-Roman, welches Glück in der privatimen Vorstellung liegen kann. Er zeigt es anhand eines Ich-Erzählers, der am Ende dieser Geschichte erkennt:
„Heute am Fluss musste ich daran denken, dass ich in den glücklichsten Momenten meines Lebens immer allein war. Eigentlich ist das ein trauriger Gedanke. Aber weshalb? Weil ich mir selbst genüge? Früher habe ich viel gelesen, habe mehr in erfundenen Welten gelebt als in der wirklichen. Inzwischen erschaffe ich mir meine Welt selbst. Meine Phantasie hat mir alles gegeben, was ich mir wünschen konnte. Die Realität vermochte nie mitzuhalten.“
Der einzige Kunde
Einsam sind viele Menschen in der Corona-Zeit. Der hier vorgestellte Mittfünfziger war es schon vorher. In den vergangenen anderthalb Jahren hat sich deutlicher als zuvor gezeigt, wer über ein soziales Netz verfügt, wer trotz Abstandsregeln Begegnungen hat – und wer in unerlöste Einsamkeit stürzt, weil nicht nur die eigene Wohnung, sondern auch die Straßen leer, die Geschäfte verlassen und die Restaurants geschlossen sind oder waren.
Von der Schulzeit im schweizerischen Winterthur der 1970er-Jahre bis zur unmittelbaren Gegenwart, bis zur Corona-Pandemie wird dieser Roman erzählt. „Das Archiv der Gefühle“ ragt hinein in den Lockdown. Der Lockdown, nie explizit benannt, ist die melancholische Grundierung dieser Geschichte: „Ich bin der einzige Kunde im Lebensmittelgeschäft. Der Ladenbesitzer macht ein paar launige Bemerkungen über die Lage der Welt. Ich will ihm das Geld reichen, er schüttelt den Kopf und zeigt auf eine Schale neben der Kasse. Ich frage mich, was diese Maßnahme soll, aber ich sage nichts und lege das Geld in die Schale und nehme das Wechselgeld heraus und stecke es ein.“
Franziska als Femme fantôme
Erzählanlass ist eine Femme fantôme, die Franziska heißt. Franziska ist seit Jahrzehnten aus dem Leben des Erzählers verschwunden und dennoch präsent. Sie erscheint nicht nur als Jugend-, sondern vielmehr als Lebensschwarm, als pathologische Fixierung. „Manchmal taucht sie so unvermittelt auf, ohne dass ich an sie gedacht habe, leistet mir ein wenig Gesellschaft und verschwindet dann, wie sie gekommen ist, und ich bin wieder allein.“ – Nicht tatsächlich taucht Franziska auf, sondern allein in den Vorstellungen dieses Mannes. Vor fünf Jahren hat er seine Anstellung als Archivar verloren. Nun arbeitet er allein an seinem eigenen Archiv, das im Verlauf dieser Geschichte mehr und mehr wirkt wie die manische Sammlung eines Stalking-Fans.
Eine Liebeswahnvorstellung
Franziska, die heiß Umschwärmte jugendlicher Jahre, ist längst erfolgreiche Chansonnière. Aber sie hat sich nie wieder bei ihrem Schulfreund gemeldet. Wie viele literarisch Liebende verzehrt sich der Mann und beobachtet selbstquälerisch jede Bewegung, jeden Atemzug der Angebeteten. „Ich öffne Franziskas Akte, ein dickes Bündel Artikel, Interviews, Kritiken, sogar einige Texte, die sie selbst verfasst hat. Mehr als dreißig Jahre müssen es her sein seit ihren ersten Konzerten, seit sie an die Öffentlichkeit trat, ein junges Mädchen mit einer schönen Stimme und großen Erwartungen.“
Auf diese Weise verwandelt sich der extrem ruhiggestellte Text in ein Dissoziationsprotokoll, in eine Liebeswahnvorstellung. Das titelgebende Archiv der Gefühle nährt im Ich-Erzähler den Drang, Franziska endlich wiederzusehen. Das Archiv wird zur Traummaschine, zum unheimlichen „Safe Space“ eines klinisch Vereinsamten, zum Katalysator einer gefährlichen Obsession.
Die latente Bedrohung
Erinnerungen an schulfreie Nachmittage, an Ausflüge, gemeinsame Partys erscheinen wieder gegenwärtig, das Feuer der ersten Liebe wird mehr und mehr im Inneren des Erzählers geschürt, ist anfangs noch Glut, am Ende lichterloh brennende Flamme. „Was würde ich Franziska heute schreiben? Ich habe dich immer geliebt? Ich habe mein ganzes Leben lang auf dich gewartet? Nein, nicht gewartet, ich war immer da. Ich war immer für dich da, auch wenn wir uns nie mehr gesehen haben.“
Eine latente Bedrohung liegt unter dieser Geschichte, unter dieser sowohl unheimlichen als auch melancholischen Meditation über die Einsamkeit, die am Ende immerhin einen literarischen Hoffnungsschimmer, einem Fiktionsausweg präsentiert. „Das Archiv der Gefühle“ wird so zum ersten Sforzando im stetig anschwellenden Chor der Coronaromane, dem es gelingt, die gesellschaftliche Psychopathologie der vergangenen anderthalb Jahre auf einen poetischen Begriff zu bringen.
Peter Stamm: „Das Archiv der Gefühle“, S. Fischer, Frankfurt, 200 Seiten, 22 Euro / der Audiobeitrag kann hier nachgehört werden