Neben Martina Hefters “Hey guten Morgen, wie geht es Dir?” erzählt in diesem Herbst auch “Toni & Toni”, das Debüt von Musiker Max Oravin, über die Faszination des Tanzes.
Spätestens seit Rainald Goetz 1983 beim Klagenfurter Bachmann-Wettlesen mit einer Rasierklinge die eigene Stirn ritzte, gelten selbstverletzende Einschnitte als ein prägender Topos der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Von Elfriede Jelineks ebenfalls 1983 veröffentlichtem Roman „Die Klavierspielerin“ über die ritzende Heldin in Lucy Frickes „Durst ist schlimmer als Heimweh“-Debüt bis zum Seppuku in Christian Krachts „Die Toten“ – der Schnitt ins Fleisch steht für verschiedene, nur im Schmerz aushaltbare Differenzen, wahlweise gegenüber dem eigenen Körper, der privaten Umwelt oder gleich der Gesellschaft als Ganzer.
Das Ritzen ist ebenfalls eine der prägnantesten Bewegungen im kurzen Prosadebüt Max Oravins, der mit „Toni & Toni“ die Geschichte einer symbiotischen Liebesbeziehung erzählt. Das junge Künstlerpaar Thomas und Antonia lebt unter prekären Umständen in Österreichs Hauptstadt Wien. Sie planen eine Tanz-Performance, wollen aufbrechen, aus- und emporsteigen. Doch nicht nur die Linien, die die psychisch labile Antonia in ihre Unterarme zeichnet, sondern auch die nächtlich gezogenen Koks-Lines verunmöglichen die Erfüllung ihres Traums.
„Wenn ich später und von da an Toni frage, warum sie sich verletzt, sagt sie immer, in Variation, was sie an diesem, für mich ersten, für sie erneuten, rückfälligen Tag gesagt hat, eine Verdunklung meines Weltbilds, eine Klärung des ihren. Sie sagt, dass sie, in diesen Momenten, aus der Welt verschwinde, oder dass die Welt sich von ihre zurückziehe, sich vor ihren Augen immer weiter entferne, sie allein lasse mit Worten, die anschwellen in ihr, bis diese Worte, ein rasend müder Weltersatz, alles ausfüllten, und die Welt und Toni verschwänden.“
Zazen gegen den Untergang
Achronologisch, in Rückblicken und Vorausgriffen, zeitlich nicht immer genau zu verortenden, ineinander verwobenen Szenen entfaltet „Toni & Toni“ das Tableau einer dysfunktionalen Liaison. Während Antonia ihren Körper über das Ritzen zu kontrollieren sucht, findet Thomas seine rettende Struktur in buddhistischen Schmerzphilosophien und seiner akribischen Aneignung der japanischen Sprache, der einzelnen „Kanji“ genannten Schriftzeichen, die er in ihre bedeutungstragenden Einzelteile, die „Radikale“, zerlegt. „Mein Plan ist, die Bedeutung der zweitausend wichtigsten Kanji nach sieben acht Monaten zu kennen, mit der Aussprache taste ich mich langsamer vor, für die sechstausend wichtigsten Vokabeln gebe ich mir, wie ich schätze, wie ich anordne, zwei drei Jahre Zeit.“
Sitzend meditierendes „Zazen“ auf der Körperebene, linguistisches Büffeln fürs Hirn – auf der Suche nach immer treffenderen Bezeichnungen einer fremd erscheinenden Welt. Das ist Thomas Plan, der nur vage aufzugehen scheint. Ohne wörtliche Rede, in einer zergrübelnden, teilweise analytischen Sprache versucht Thomas, der Ich-Erzähler dieses Buchs, einer unübersichtlichen Lage Herr zu werden. Das Leben aber schnürt ihm die Luft zum Atmen ab, auch die Sprache wirkt stellenweise wie vakuumiert: „Weiß ist die Zeit, die nicht vergeht, schwarz der Wortstrom, auf den mein Denken schaut.“
Ablösende Netzhaut
Das geförderte Tanzprojekt droht zu scheitern. Antonia liegt depressiv verstimmt im Bett. Keine rosigen Aussichten. Beide sind abhängig vom österreichischen Arbeitsmarktservice. Schönheit sieht Thomas seltener in den japanischen Schriftzeichen oder im Buddhismus, häufiger im feinen Narbenverlauf seiner psychisch erkrankten Partnerin – im Kintsugi ihrer schmerzhaften Autodestruktion. „Die meisten, der Narben, die Tonis Haut überziehen, sind fein wie mit einer Feder gezogen, dünne Risse im Porzellan, mit Gold ausgefüllt, eine Teeschale, das kostbarste Objekt eines Meisters des Sadō 茶道, Spuren der Zeit.“
Nach Martina Hefters „Hey guten Morgen, wie geht es Dir?“ ist Max Oravins „Toni & Toni“ der zweite deutschsprachige Roman dieses Bücherherbstes, der die Sphären des Prekariats auf der einen, der Tanzkunst auf der anderen Seite zusammenbringt. Während Hefters Geschichte Resilienz, Zuversicht und die tröstliche Liebesform der Caritas poetisiert, ist „Toni & Toni“ selbstzerstörerisch und zeigt zwei hilflos Ertrinkende, die sich fatalerweise aneinanderklammern. Bereits jene Gedichte Oravins, die abgedruckt sind in der „Lyrik von Jetzt 3“-Anthologie, wirkten im Jahr 2015 wie Entgrenzungsprotokolle. Da stehen Verse wie: „das auge ist das abziehbild des himmels / der fingernagel löst die netzhaut / trennt das aug / vom sehnerv“ – sie weisen auf die zentralen Themen dieses neun Jahre später entstandenen, enigmatischen Erzähldebüts.
„Toni & Toni“ bietet sowohl auf der strukturellen als auch auf der Figurenebene weder einen Ein- noch einen Ausgang. Lediglich meditative Verharrung oder depressives Herumliegen bieten eine Möglichkeit des Überlebens, des Aushaltens, des Irgendwie-durch-Kommens. Bekanntlich ist jeder Mensch ein Abgrund und es schwindelt einen, wenn man hinabsieht, doch hier, in diesem Roman, besteht tatsächlich die Gefahr, dass man am Ende selbst in besagten Abgrund hinabstürzt – aus Vergeblichkeit ob der tristen Aussicht in dieser klaustrophobisch-hermetischen Schmerzgeschichte.
Max Oravin: „Toni & Toni“, Droschl, Wien, 112 Seiten, 21 Euro