Schrullig und verlassen erscheint die alternde Frau in Katharina Mevissens neuem Roman „Mutters Stimmbruch“. Viel wird dieser Figur zugemutet – doch eine beeindruckende Würde strahlt diese Mutter während eines schwierigen, verlassen wirkenden Jahres aus
Die fortdauernd dünner werdende Stimme bringt Mutter – auch phonetisch – an die Grenze des Sagbaren. Neun Sprachen spricht sie, doch redet sie mit niemandem mehr, nachdem erst der Mann, dann die Kinder ausgezogen sind. Manchmal spricht Mutter mit der Zentralheizung, den Bäumen und dem Brot, sie beschimpft ihre Zähne oder das Radio. Ansonsten schweigt sie. Vermutet wird, dass sie eine besondere Art des Stimmbruchs durchlebt, ungewöhnlich für eine über sechzigjährige Frau. „Mutter hatte immer gedacht, dass man im Leben zwei Stimmen bekommt: erst die Milchstimme, mit ihr lernt man sprechen. Und später die erwachsene Stimme, mit ihr lernt man zu sagen, was man will.“
Der These dieses kurzen, hochkonzentrierten Romans folgend, kann passieren, dass wir Rückschritte machen, unsere eloquent klingende Erwachsenenstimme verlieren und stattdessen in die kindliche Milchstimme zurückfallen. Mutters Rückfall beginnt im Hochsommer, nachdem sie in eine Garten-Regentonne gestiegen ist. Im Haus schrillt plötzlich das Telefon und Mutter, sichtlich überfordert, bekommt vom einen auf den anderen Augenblick Zahnschmerzen.
„Mutter ging ins Haus. Als das Telefon Ruhe gab, nahm sie zuerst den Hörer vom Apparat. Holte eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank und hielt sie so lange gegen ihre Wangen gedrückt, bis die Milch lauwarm war. Noch am selben Abend beschloss sie, mit dem Lesen aufzuhören und alle Bücher in den Keller zu verfrachten. Die Zähne taten weh, die Augen, der Kopf. Und die Hitze. Es wurde Mutter alles zu viel. Sie wollte nur noch ihre Ruhe. Ohne zu wissen, wofür.“
Diese Frau wirkt bedroht
Wie neugeboren steigt Mutter aus der Wassertonne, aus diesem offensichtlichen Sinnbild der fötalen Fruchtblase. Und weil sie eine Neugeborene ist, passen auch die Zähne nicht mehr zu ihr. Das Gebiss lässt sie im Verlauf der Geschichte komplett ziehen, als wollte sie tatsächlich zurückkehren in den Zustand eines zahnlosen Säuglings. Einerseits. Mit dem Verzicht auf ihre schadhaften Zähne schiebt sie andererseits eine unheimliche Furcht beiseite. Überdeutlich steht der Verfall ihres Zahnstatus’ im Verhältnis zur Sterblichkeit. Man denkt an die todbringenden Zahnquerelen des alten Senators in Thomas Manns „Buddenbrooks“. Während „Mutters Stimmbruch“ werden die Zähne entfernt, bevor sie das Leben der Heldin bedrohen.
Ohnehin wirkt diese Frau weniger bedroht, eher wunderlich. Man könnte aufgrund ihres Alters an eine Pre-Demenz denken oder an eine mittelschwere psychische Krise, die durch Einsamkeit ausgelöst wurde. Einsam und beziehungslos nämlich tritt Mutter der Welt gegenüber. Über die Dauer eines Jahres sucht sie kaum Kontakt zur Außenwelt. Nur zu ihrem grabesähnlichen, unter der Erde liegenden Keller hat sie ein intimes Verhältnis entwickelt. Handwerkern verwehrt sie den Zutritt. In den Keller darf nur sie allein hinab.
„Mutter verbringt inzwischen manche der langen Abende im Herzen des Hauses: Sie hockt im dunklen Heizungskeller. Auch wenn sie sich vielleicht nur einbildet, dass es dort wärmer wäre. Die Neonröhren lässt sie ausgeschaltet, das weiße Licht ist ihr zu kalt. Hier kann sie hören, wie das Wasser durch die Leitungen gluckert. Wie in der Ferne das Meer rauscht. Wie die Wurzeln der Weide auf der anderen Seite des Gemäuers wachsen und dem Haus zu Leibe rücken.“
Alles Gute zum Muttertag
Der Keller und die Zähne, das Wasser, die Wurzeln und die Stimme sind zentrale, immer wieder neu arrangierte Metaphern dieses Romans, dessen eigene Stimme aus weiter Entfernung zu den Leserinnen und Lesern spricht. Unklar bleibt, wer hier erzählt. Obwohl die Figur als Mutter bezeichnet wird, scheint wenig wahrscheinlich, dass tatsächlich eines ihrer Kinder spricht.
„Mutters Kinder sind älter geworden: manche Männer, manche Mütter. Dreimal im Jahr klingeln sie bei Mutter, nicht an der Tür, sondern am Telefon. Sie sind alle weit weg. Mutter verwechselt sie manchmal, so ähnlich klingen sie. Sie sagen dann: Alles Gute zum Muttertag! Oder: Frohe Weihnachten! Oder: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Und Mutter sagt dann: Danke.“
Dann nimmt sie den Hörer in die Hand
„Mutters Stimmbruch“ oszilliert zwischen kammerspielartiger Vertrautheit und distanzierter Betrachtung. Am Alltag dieser schrulligen Figur nimmt niemand teil. Ist sie erkältet, bleibt Mutter allein und gurgelt kalten Kamillentee. Ins Schwimmbad geht sie ohne Begleitung, der Ex-Mann ist an keiner Stelle präsent. Sie begegnet den sich mehr und mehr einstellenden Widrigkeiten ohne die Hilfe anderer. Dennoch wird diese Figur an keiner Stelle der Hoffnungslosigkeit preisgegeben.
Stoische Würde und tröstliche Autonomie kennzeichnen das Wesen dieser offensichtlich selbstgenügsamen Frau. „Mutters Stimmbruch“ zeigt, dass starke Menschen nicht nur ein Schicksal haben, sondern auch die Wahl, wie sie dem Schicksal begegnen. Am Ende wird Mutter den Telefonhörer in die Hand nehmen, um alte Bekannte anzurufen, nicht wissend, welche der aufbewahrten Nummern weiterhin zu einem Anschluss gehören und welche Anschlüssen zu den erwarteten Stimmen führen. Um das herauszufinden, muss sie den Mund aufzumachen. „Das weiß Mutter. Also. Nimmt sie den Hörer in die Hand, räuspert sich. Und wählt.“
Katharina Mevissen: „Mutters Stimmbruch“, mit 7 Monotypien von Katharina Greeven, Wagenbach, 128 Seiten, 22 Euro