Nach dem Zwei-Millionen-Bestseller „Feuchtgebiete“ steht Charlotte Roche nun mit ihrem Roman „Schoßgebete“ im Rampenlicht. Es geht ums letzte Tabu: Sex in der Ehe.
Ehefrau Elisabeth ist zum zweiten Mal verheiratet. Die 33-jährige hat eine siebenjährige Tochter, einen ebenfalls siebenjährigen Stiefsohn, hinter sich ein kaputtes Elternhaus und täglich im Blick: Das perfekt abgestimmte Sexprogramm im Doppelbett. „Schoßgebiete“ schildert drei Tage dieser hoffnungslos überforderten Frau, die sich um die Bio-Nahrung ihrer Kleinen ebenso sorgt wie um die Porno-Phantasien von Gatte Georg. – Wenn es langweilig wird, buchen die beiden eine Hure dazu. Das dann folgende Trauma dieser „Elisabeth“-Überforderung bespricht Mama tags darauf in der Therapiepraxis von Frau Drescher. Soweit, so „Feuchtgebiete“. Aber Charlotte Roche verarbeitet mit „Schoßgebete“ auch den Tod ihrer drei Brüder, die 2001 bei einem Autounfall ums Leben kamen – auf dem Weg zur geplanten Hochzeit der Moderatorin. Im Buch notiert Elisabeth lapidar: „Wir haben wie im Krieg drei Kinder verloren.“
Fast zehn Jahre hat Charlotte Roche gewartet und nun, gegen den ausdrücklichen Rat ihrer Psychiaterin, dieses „Riesentherapiegespräch“ (Roche im „Spiegel“-Interview) abgeliefert. Wenn man dann liest, wie ihre Heldin zwischen beständiger Trauer und bizarr choreographiertem Sex zerrissen wird, als lebte sie neben dem eigenen, auch noch das verlorene Leben ihrer toten Brüder, dann spielt die Moderatorin selbstverständlich mit der eigenen Biografie. – „Dieser Roman basiert auf einer wahren Begebenheit. Darüber hinaus ist jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie realen Geschehnissen rein zufällig und nicht beabsichtigt.“ So steht es am Anfang von „Schoßgebete“. Nun, wenn man einen Menschen bittet, 30 Sekunden lang nicht an rosa Elefanten zu denken. Woran denkt dieser Mensch dann?
Genauso verhält es sich mit diesem Eingangsstatement . Das ist nicht verwerflich. Ebenso wäre es geschmacklos, über die Art von Charlotte Roches Trauerbewältigung zu urteilen. Ganz davon abgesehen – Unfall, Krankenhausbesuche, Beerdigung, die Beschreibung, wie es sich anfühlt, die Urne seines kleinen Bruders in der Hand zu halten – das sind beeindruckend rohe Augenblicke nicht fassbarer Trauerarbeit. – „Wer dachte, Feuchtgebiete ist krass, der muss sich hierbei richtig anschnallen“, verspricht Charlotte Roche im „Schoßgebete“-Werbetrailer. Dieses Trommeln darf nicht verwechselt werden mit den BILD-Schlagzeilen, die 2001 zum Autounfall, 2008 zu „Feuchtgebiete“ erschienen sind – und wegen der entstandenen Verletzung von Persönlichkeitsrechten auch die Gerichte beschäftigte. Wenn Charlotte Roche also im Beinahe-BILD-Reisserjargon ankündigt, mit „Schoßgebete“ letzte Tabus zu berühren, ist das selbstverständlich ebenso viel Kritik wie Commercial.
„Natürlich will ich dich ficken, wie könnte ich das nicht wollen, du mit deinem dampfenden, kleinen Körper, der so müde ist und klein und freundlich. Du bist ganz Lilie, nicht wahr? Jetzt mach die Beine breit. Es geht ganz gleich.“ Das ist übrigens kein Zitat aus „Schoßgebete“, sondern aus dem Roman „Ehepaare“ von John Updike. Bereits 1968 geht es hier, allerdings aus Männer-, statt aus Frauensicht um: Ehesex, Orgien, Toilettensituationen und Tod. „Sie waren zusammen gestorben, seine Mutter innerhalb von Minuten, sein Vater drei Stunden später im Krankenhaus: ein Autounfall in der Woche vor Weihnachten 1949, bei Dämmerung.“ – Fraglich also, ob „Schoßgebete“ die groß angekündigten „letzten Tabus“ unserer Zeit thematisiert, ob das alles nie da gewesen ist. Dass Charlotte Roche an den ewigen Literatur-Nobelpreiskandidat John Updike heranreicht, erwartet niemand. Aber es ist verblüffend, wie über 40 Jahre nach dem legendären „Summer of Love“, nach Studentenprotesten, Woodstock und BHs verbrennenden Feministinnen der gleiche Stoff – Ehe, Sex, Promiskuität, Tod – erneut zum Aufreger taugt.
Hüfthosen sind inzwischen out. Statt nackter Haut und Party-Techno kommen nun hochgeschlossenes Schwarz und androgyne Männer, die zu Synthesizerklängen ihren Schmerz ins Mikrofon weinen; „Stay“ von Hurts hält sich weiterhin in der Top 100. Vielleicht verrät „Schoßgebete“ mehr über unsere allgemeine Gegenwart, als über Charlotte Roche im Speziellen – und ist gerade deshalb ein würdiger Sommerblockbuster im verregneten August 2011. Mittwoch werden die ersten 250.000 Exemplare im Buchhandel liegen.
Charlotte Roche: „Schoßgebete“, Piper, 284 Seiten, 16,99 Euro / Das ungekürzte Hörbuch erscheint bei Osterworld Audio, 8 CDs, 579 Min.