Der neue Roman des niederländischen Bestsellerautors Maarten ’t Hart stellt einen grantelnden Orgelstimmer vor. Eigentlich will Gabriel Pottjewijd nur einen n Auftrag erledigen. Doch er bleibt länger als geplant in Groningen, wo ihm beinahe die letzten Nerven geraubt werden.
Gereizt ist die Stimmung in diesem von zahlreichen Stimmungen berichtenden Roman, der mit einem Anfang beginnt, mit einer Anreise. Gabriel Pottjewijd, ein verwitweter Orgelspezialist, fährt an die Küste Nordhollands, wechselt den Zug in Groningen, und bereits dieser Umstieg ist auf der ersten Seite Anlass sarkastischer Überlegungen.
„Seltsam, dass die Menschen in Ostfriesland, Luftlinie nicht weit von Groningen entfernt, so viel netter und zuvorkommender sind als die Groninger. Denn auch wenn man reimt: ‚Schön wie die gold’nen Ähren sprießen, schuf Gott die Drenter, Groninger und Friesen, und aus der Spreu und andren Resten, schuf er die Drecksäcke im Westen’, kann man nicht sagen, dass Drenter, Groninger und Friesen wirklich nette Menschen wären.“
Zahlreiche Verstimmungen
Trist, karg, calvinistisch erscheint der Küstenort, in dem Pottjewijd eine kleine Pension bezieht und hofft, alsbald wieder abreisen zu können. Doch sein Aufenthalt wird länger als vermutet, denn weitere Orgeln anderer Gemeinden sind verstimmt, in diesem ohnehin stimmungsgesättigten und von zahlreichen Verstimmungen geprägten Roman. Pottjewijd bekommt unerwartet Hilfe von einem 15-jährigen Mädchen, das als geistig retardiert, doch stimmhandwerklich hochbegabt vorgestellt wird. Sie lässt sich so geschmeidig auf der Orgelbank nieder,v„dass man meinen konnte, sie habe diese Bewegung viele Male geübt, und zog dann, als wäre es vollkommen selbstverständlich, das Stimmregister, Oktav 4 im Hauptwerk. Sie wusste also, dass man immer mit dem Oktav 4 beginnt. Es kommt darauf an, dort eine gute Temperatur hinzulegen, mit anderen Worten: dieses Register sehr gut zu stimmen und es anschließend offen lassen, sodass man die Töne dieses Registers, das man anschließend stimmt, mit denen des Oktav 4 vergleichen kann.“
Pottjewijd ist verwitwet, wie die portugiesische Mutter seiner jugendlichen Stimmhelferin. Beide fühlen sich alleingelassen, beide sind fremd in dem niederländischen Küstenort – und so spinnt sich langsam ein zartes Band zwischen ihnen. Der Orgelstimmer und die Witwe stützen sich im lebensfeindlichen Ambiente – und wie lebens- und fremdenfeindlich das Nest ist, illustriert auf treffliche Weise ein heimischer Organist, der gesteht: „Ich habe mich enorm an die frommen Menschen gewöhnen müssen, als ich hergezogen bin. Die meisten Prediger, die hierher berufen werden, beten schon ein halbes Jahr nach ihrem Amtsantritt dafür, den Ruf in eine andere Gemeinde zu erhalten.“
Der sprechende Esel
Fromm mögen sie sein, diese Menschen, die sich abends in Schifferkneipen treffen, um über kuriose Bibelstellen zu diskutieren, wie über den Propheten Bileam und seinen sprechenden Esel im vierten Buch Mose. Gleichzeitig aber echauffieren sie sich, weil ein orthodox-reformierter Bauunternehmer hilft, eine Moschee zu errichten. „Das haben wir vorhin auf dem Empfang bereits ausgiebig besprochen. Wir könnten ihn, um einfach mal ein Zeichen zu setzen, vom Heiligen Abendmahl ausschließen.“
Auch die Liaison zwischen dem Orgelstimmer und der portugiesischen Witwe ist der Gemeinde ein Dorn im Auge. Pottjewijd erhält anonyme Drohungen und wird irgendwann hinterrücks ins Hafenbecken gestoßen. Als er die Angelegenheit auf der örtlichen Polizeiwache zur Anzeige bringt, entgegnet der Beamte lapidar: „Tja, wenn ich hierzu vielleicht meine persönliche Meinung äußern dürfte, dann muss ich sagen, dass Sie den Ärger geradezu suchen, wenn Sie ausgerechnet mit dieser aufsehenerregenden Witwe Kirchenorgeln zu Leibe rücken. Gibt es denn sonst wirklich niemanden, den Sie dafür anheuern könnten?“
Pas de deux
Pottjewijd möchte schlechterdings keine anderen Assistentinnen als diese Mutter und ihre 15-jährige Tochter suchen. Während die Stimmung kippt, sich das Klima gegen ihn verschärft, versucht der Orgelstimmer in nächtlicher Arbeit und täglichem Liebeswerben das Gute, Wahre und Schöne zu retten, für das er sich einen feinen Sinn bewahrt hat – für einen kritischen Glauben und für den enthusiastischen Genuss von Bach-Kantaten, für die gespenstische, aleatorische Musik des estnischen Komponisten Arvo Pärt, für Igor Strawinskys „Pas de deux“, „das war ja vielleicht doch das schönste Musikstück, das im zwanzigsten Jahrhundert geschrieben wurde, so wie das ‚Air’ von Bach das schönste Musikstück des achtzehnten Jahrhunderts ist und das Trio des Scherzos aus Schuberts Streichquartett in G-Dur das schönste Stück aus dem neunzehnten Jahrhundert.“
Musik evoziert hier eine rechte Gestimmtheit. Über 300 Stellen beziehen sich in Maarten ’ Harts Roman auf Stimmen und Stimmungen – vom besagten Bileam und seinem Esel, der in Menschenstimmen redet, über kommunikative Zu- und Verstimmungen bis zum Werkzeug des Orgelstimmers, den Stimmeisen und –krücken, sodass dieser sprachlich wohltemperierte Roman zahlreiche bestimmte wie unbestimmte Stimm- und Stimmungsfarben erklingen lässt.
Die Erhabenheit
In Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“ von 1790 spricht der Königsberger Philosoph von jener „proportionierten Stimmung“ zwischen Emotion und Rationalität, die ein rechtes Geschmacksurteil überhaupt erst möglich macht: „Mithin ist die Geistesstimmung durch eine gewisse, die reflektierende Urteilskraft beschäftigende Vorstellung, nicht aber das Objekt erhaben zu nennen“, sagt Kant; und Maarten ’t Hart – der selbst ein geübter Organist ist – spielt gekonnt auf der vieltönenden Stimmungsklaviatur. Er zieht alle Register, um im Orgelbild zu bleiben, sodass eine Ahnung von eben dieser kantschen Erhabenheit entsteht. Seine Parlando artige Erzählung wirkt auf der sprachlichen Ebene harmonisch.
Doch diese Harmonie wird von permanenten Misstönen verhindert in einem Land, das Frieden auf Erden nur jenen verspricht, die dem rechten Glauben angehören. Wer es wagt, beim Moscheebau zu helfen, dem droht der Ausschluss vom Abendmahl, wer als Fremder an die Tür dieser Menschen klopft, wird ins Hafenbecken geschubst. So ist „Der Nachtstimmer“ nicht nur ein Roman über schöne Orgeln, heitere Bibelparadoxien und melancholisches Liebeswerben, sondern auch eine gegenwärtige Parabel über jene hässlichen Stimmen, die keine Bach-Kantate übertönen kann.
Maarten ’t Hart: „Der Nachtstimmer“, aus dem Niederländischen von Gregor Seferens, Piper, München, 312 Seiten, 24 Euro / Anna-Katharina Gisbertz (Hg.): „Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie“, Wilhelm Fink Verlag, Paderborn, 248 Seiten, 39,90 Euro / Hans-Ulrich Gumbrecht: „Stimmungen lesen“ , Carl Hanser, München, 182 Seiten, 20 Euro.