Ein Kriegsverbrechen, ein Verfahren, eine Liebe zwischen einer Serbin und einem Kroaten – Nicol Ljubić erzählt in seinem Roman “Meeresstille“ von Schuld, Flucht und Beziehungen.
“Šimić kennt die Wahrheit. Aber er schweigt.“ Der serbische Anglistikprofessor und Shakespeare-Kenner sitzt fein gekleidet im Gerichtssaal von Den Haag. Ihm wird vorgeworfen, während des Bürgerkriegs in Jugoslawien binnen einer Nacht in Višegrad 42 muslimischer Flüchtlinge verbrannt, beziehungsweise deren Verbrennung angeordnet zu haben. “Višegrad ist zu traurigem Ruhm gelangt, weil in keinem anderen Ort – außer Srebrenica – so viele Menschen verschwunden sind, vor allem Männer und männliche Jugendliche.“ Sie wurden erschossen, verschleppt, gefoltert und in diesem ganz konkreten Fall mit einer falschen Rot-Kreuz-Binde in ein leerstehendes, mit Brandbeschleunigern präpariertes Haus geführt: Männer, Frauen, Alte, Junge, Babys.
Im Zuschauerraum von Den Haag sitzt Robert, der in Berlin mit Šimićs Tochter Ana liiert gewesen ist. Er hat kroatische Wurzeln, wurde in Deutschland geboren und sein Vater bestand immer darauf, dass Robert Deutscher sei, kein Kroate. Ana wiederum ist mit einem Stipendium für Nachkommen von NS-Opfern nach Berlin gekommen. Ihre Großmutter war in Jasenovac, dem größten Vernichtungslager auf dem Balkan, “und sie ist von dort aus nach Leipzig deportiert worden, wo sie Zwangsarbeiterin in einem Hotel war.“ Nicol Ljubić spricht in “Meeresstille“ also nicht nur den Genozid in Jugoslawien an, sondern auch den nationalsozialistischen Genozid, der wiederum einer rot-grünen Regierung als Rechtfertigung für die ersten deutschen Bombenangriffe seit 1945 gewesen ist – “Nie wieder Auschwitz!“
In diesem unübersichtlichen Netz aus Schuldbeziehungen, Nationalstolzthesen, Überzeugungsverbrechen und Fremdenhass könnte die große Liebe heilen. Aber das ist leicht dahergesagt und misslingt bei Ana und Robert auf ganzer Linie. Viel zu sehr kreisen sie um Fragen von bombastischem Gewicht wie der nach vererbbarer Schuld und der Loyalitätsbeziehung zum eigenen Volk, die wie weit eigentlich gehen darf? Während hier zwei Parteien im Privaten verhandeln, ermittelt das Gericht in Den Haag im öffentlichen Raum. Aber “wenn da Gericht so unvoreingenommen ist, wie alle behaupten, dann soll es Clinton und Schröder anklagen und all die anderen westlichen Politiker, die verantwortlich sind für die Bombardierung eines souveränen Staats. Das war Serbien nämlich.“
Von Siegerjustiz ist hier die Rede, was bereits den “Nürnberger Prozessen“ gegen ranghohe Nationalsozialisten vorgeworfen worden ist. Šimić wird von der Verteidigung dargestellt als sanftmütiger Mann, der unter dem frühen Tod seines Sohns leidet und niemals ein Tier schlachten könnte, der von den einen Prozessbeobachtern als klar schuldig ist, vom Gericht später aber freigesprochen werden wird. Dazwischen sitzt Robert, verlassen von Ana, mit seinen zarten Erinnerungen an eine große Liebe. Er hat Angst, dass ihm die Exfreundin fremd wird oder dass er Sympathien für einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher entwickelt könnte. Es ist die Angst eines jungen Mannes, der sich nach “Meeresstille“ sehnt, während die Brandung um ihn, in ihm tobt. Nicol Ljubić ist ein ruhiges, ein aufwühlendes Buch gelungen, ein Buch der Gegensätze, das schön ist – und fürchterlich, in einem.
Nicol Ljubić: “Meeresstille“, Hoffmann und Campe, 192 Seiten, 17 Euro