„Dann hat mich der Arzt gefragt: ‚Gibt es eine Geschichte von Lungenkrankheiten in Ihrer Familie?‘, worauf ich nur erwidern konnte: ‚Guter Mann, meine Familie ist die Geschichte von Lungenkrankheiten.‘“ (aus: „Schöne Seelen“) – In welcher Weise der Schweizer Dandy-Schriftsteller Philipp Tingler die bürgerliche Inszenierung schätzt zeigt er schon mit der Danksagung seiner Dissertation „DICHTUNG UND KRITIK – Thomas Mann und der transzendentale Idealismus“, die er vor einigen Jahren an der Universität Zürich vorlegte. Damals schrieb er: „ Diese Dissertation ist zu nicht unwesentlichen Teilen bei Starbucks an der Bahnhofstrasse in Zürich verfasst worden (wohin ich immer flüchte, wenn meine Putzfrau Maxi kommt), sowie in den Lounges diverser Flughäfen von Mailand bis Johannesburg, an Bord einiger Interkontinental- strecken und schließlich bei Pancakes, Eggs Benedict und endlosen Litern Kaffee in der Polo Lounge des Beverly Hills Hotel. Dabei habe ich gar nichts gegen Arbeitszimmer und Bibliotheken, im Gegenteil, für bestimmte Arbeiten sitze ich am liebsten Zuhause in Zürich an meinem Schreibtisch, groß und verlässlich, auf dem all die kleinen Dinge in alter Weise angeordnet sind. Mein Schreibtisch ist mein Refugium.
Mit „Fischtal“ hat Tingler 2007 den Roman zum Nostalgie-Trend verfasst, mit „Stil zeigen!“ 2008 ein „Handbuch für Gesellschaft und Umgangsformen vorgelegt, 2009 dann besagte Dissertation über Thomas Mann und 2010 im Roman „Dr. phil.“ den Teufel als Fashing-Victim portraitiert – und er hängt nicht nur wie der große Buddenbrooks-Autor an seinem Schreibtisch mit den „Sächelchen“; der Gestus seiner Literatur ist jener des berühmten Lübeckers ähnlich. Deshalb liest sich schon die anfänglich ausufernd geschilderte Sterbeszene einer Zürcher Grande Dame eben so: „In einer Suite der Privatklinik ‚Le Retrait‘ vor den Toren der lieblichen Stadt Genf hauchte, im Kreise ihrer engsten Freunde und umgeben von Diptyque-Duftkerzen, Millvina Van Runkle ihr Leben aus – eine große Dame der Zürcher Gesellschaft, bei deren letztem Facelift sich Komplikationen eingestellt hatten: eine Thrombose, verbunden mit einer Infektion der Lunge und einer Verletzung von größeren Ästen von Gesichtsnerven.“ Kerzen für 65 Euro (das Stück!), eine Suite und das liebliche Genf als Kulisse bilden den großbürgerlichen Hintergrund von „Schöne Seelen“, dieser fein ziselierten Geschichte um den spitzzüngigen Schriftsteller Oskar (nicht Wilde) und seinen im Finanzsektor tätigen Kameraden Viktor.
Letzterer will seine Ehe mit therapeutischer Hilfe retten, hat aber keine Lust, sein Leid bei einem Seelenzergliederer auszubreiten. „Es passt gar nicht. Es passt gar nicht zu mir. Die Kosten dafür sind prohibitiv hoch für mich. Besonders wenn man die Unsicherheit des Erfolgs bedenkt.“ Also überredet er Oskar, der gerade stockend an einem bombastischen Hindenburg-Musical arbeitet, bei Doktor Hockstädder vorstellig zu werden. Oskar geht nach kurzem Zögern darauf ein und trägt fortan im Therapiezimmer die Eheprobleme seines Freundes als die eigenen vor. Nach jeder Stunde erstattet er Bericht. Doch obschon Oskar als Künstler in der Vorstellungswelt beheimatet ist glückt die Scharade ab jenem Augenblick nicht mehr, als Hockstädder geschickt ins Innere des Künstlers vordringt und nun dessen Befindlichkeiten analysiert: „Schließlich leben Sie dem Anschein nach nun in einem gänzlich entgegengesetzten Bezirk, nämlich in jener überreizten, passiv-aggressiven Gesellschaftssphäre, wo man, abgedriftet in ein Meer aus Luxusprodukten und Platinmeilenkarten und bedeutungslosem Sex, keiner geregelten Arbeit nachgeht und stattdessen sich pflegt und sein Innenleben peinlich beobachtet und über diese Beobachtungen sich zu unterhalten liebt.“
Die Sache entgleitet Oskar, wobei er allerdings nie jenen Sarkasmus missen lässt, der ihn augenscheinlich mit Namensvetter Oscar Wilde verbindet: „Viktor“, sagte Oskar, und er fand, dass er noch immer therapeutisch klang, „Trennung ist ein intensiver Prozess, der durch die Trauer zu sich selbst führt. Vielleicht solltest du deine Gefühle über Twitter loswerden.“ Mit derlei ernsten Scherzen unterhält Tingler in gewohnter Manier, analysiert en passant die Hautevolee Zürichs und fügt den zahlreichen Depressions- und Therapieromanen der vergangenen fünf Burnout-Jahre diese kühl-heitere Satire hinzu, die allein auf Stilebene ihrem Titel der „Schönen Seele“ gerecht wird, bereits beim vorangestellten Motto: „Ich hatte mal ne Panikattacke, weil ich mit dem Kopf in einem Prada-Pullover steckengeblieben bin; und das hier ist schlimmer.“
Philipp Tingler: „Schöne Seelen“, Kein & Aber, 252 Seiten, 22 Euro