Joachim Lottmann, den weiterhin nur „Pop-Autor“ zu nennen einer Beleidigung gleich käme, hat die Novelle des Frühjahrs geschrieben – eine italienische Novelle sogar, von ihm selbst ironisch als „Alterswerk“ angekündigt, ein Text, den man in dieser Weise nicht von ihm erwartet hätte. In Grottamare an der Adria gibt es ein aufregendes Wiedersehen mit Gustav Aschenbach, Thomas Mann, Martin Walser und mit Walter Faber, dem kargen Helden aus Max Frischs bekanntestem Roman.
„Alles wurde bezahlt, die Flüge, die Leihautos, die Spesen, das Taschengeld, die Honorare, das ging bis zur Insolvenz des Verlages, wie man später erfuhr (Haffmans & Tolkemitt meldeten in der Woche vor Weihnachten Insolvenz an). Den gesamten Mailverkehr habe ich kürzlich einmal ausdrucken und binden lassen, es sind etwa 500 Mails.“ So beschreibt Lottmann am 3. April diesen Jahres „Die Geschichte hinter ‚Hotel Sylvia’“ im Feuilleton der F.A.S., nachdem er bereits Anfang des Jahres dem taz-Blog ein kurioses Interview gegeben hatte, das sich verkürzen lässt auf die beiden Einstiegsfragen und -antworten.
taz: „In der Literaturszene haben viele schon gespannt auf ‚Hotel Sylvia‘ gewartet…“ Lottmann: „Noch mehr warten sie hoffentlich auf mein Hauptwerk ‚Der Zweite Faschismus‘, das dieses Jahr sehr aufwendig veröffentlicht werden wird.“ taz: Man ist in einigen Kreisen verwundert, daß Sie die Existenz von ‚Hotel Sylvia‘ geradezu zu leugnen scheinen. Ist das so?“ Lottmann: „Nein, überhaupt nicht. Aber ich fände es ärgerlich, wenn diese harmlose kleine Novelle dieselbe Aufmerksamkeit bekäme wie ein 800-Seiten-Oeuvre über unsere Gesellschaft in den Zeiten des weltweit vordringenden politischen Islam.“
Diese Paratexte sind Teil des tatsächlich als Novelle betitelten und gerade unter dem Label Haffmans & Tolkemitt erschienenen Buchs, das von einem verheirateten Schriftsteller erzählt, der mit einer wesentlich jüngeren Freundin (Agnes), seinem im Sterben liegenden Bruder Manfred und dessen Frau Jessica („Eine durchaus adrette Person. Ich hatte sie mir wie eine Angestellte des KZ Ravensbrück vorgestellt, doch sie wirkte eher wie eine zarte Apothekerin.“) eine letzte Reise an den Urlaubsort der Kindheit unternimmt und dort räsoniert übers Älterwerden und Jungbleiben, über letzte Tinte und Tänze:
„Das Hotel Sylvia wurde 1967 gebaut, wir haben es wachsen sehen. Es ist eine der wenigen Bausünden Grottamares, eigentlich das einzige, weil es ein Hochhaus ist, mit etwa elf Stockwerken, also wesentlich höher als die danebenstehenden Häuser direkt am Strand. Das Hotel Sylvia hat natürlich einige Renovierungen erlebt, aber das Eigentliche ist noch genauso wie damals, zum Beispiel der Fahrstuhl, der schnell ist und rumpelig und nur drei Personen faßt.“ – Das „Hotel Sylvia“ gibt es tatsächlich. Auf Tripadvisor wird es beschrieben als „Hotel troppo vicino alla ferrovia, letto scomodissimo sottile e con una tavola di legno come rete! Niente giochi per i bambini e il pomeriggio la struttura copre la spiaggia e non si può prendere il sole. Mare super sporco, mia figlia non a voluto fare neanche il bagno. Si mangia bene.“ Es liegt also zu nah an den Bahngleisen, die Betten sind unbequem, Kinder werden nachmittags nicht bespaßt, der Strand ist grauenhaft, das Meer schmutzig. Aber das Essen soll gut sein, immerhin.
Eine Reise also, ein Urlaub, wie in „Ein fliehendes Pferd“, eine Reise nach Italien, ins Mutterland der europäischen Novellistik, wie in „Der Tod in Venedig“, wo der Großschriftsteller Gustav Aschenbach aus Sehnsucht losfährt, um am Ende an der Indischen Cholera zu sterben, eine Reise, wie sie ebenfalls Thema ist in „Homo faber“ von Max Frisch, dieser tragischen Geschichte um den rationalen Ingenieur, der sich schuldlos-schuldig macht, indem er mit seiner ihm bislang nicht bekannten – und inzwischen erwachsenen – Tochter schläft.
„Homo faber“, ist das Lieblingsbuch von Jessica; der Schriftsteller aber denkt, dass Agnes seine Tochter sein könnte („Ich war zwar nicht der Typ ‚alter Mann‘, hätte aber dennoch ihr Vater sein können.“) – während die Frau daheim wartet. – Diese drei Bücher, „Ein fliehendes Pferd“, „Der Tod in Venedig“ und „Homo faber“, sind die wichtigsten Bezugspunkte von Lottmanns „Hotel Sylvia“, das von real Geschehendem zu erzählen scheint, sich aber dabei aufgrund zahlreicher intertextueller Verweise der eigenen Literarizität bewusst ist, diese Literarizität wiederum gekonnt verdeckt, vielleicht sogar in einer Weise verdeckt, die befürchten lässt, „Hotel Sylvia“ könnte in diesem Bücherfrühling einfach untergehen – es gibt bislang keine nennenswerte Resonanz; vollkommen zu Unrecht. Wo ist das Feuilleton, wenn man es braucht? Klar, der Begriff „Novelle“ und die nicht mehr aktiven Telefonnummern auf der Verlagshomepage sind hinderlich. Aber das Buch selbst verhindert nicht einmal den Mainstream-Zugang, obwohl es heißt:
„Die Auswahl des Novellenbegriffs für eine Prosaerzählung bedeutet: ‚Seht her, ich ordne mich in eine seit dem Spätmittelalter überlieferte Gattungstradition ein. Ich will alte Formen nicht umstürzen, ich will mich ihrer entweder ernsthaft oder ironisch bedienen, auch um mein handwerkliches Können als Schriftsteller unter Beweis zu stellen‘“, schreibt der Literaturwissenschaftler Rolf Füllmann und bei einem routinierten Schriftsteller wie Lottmann kann man zweifelsohne davon ausgehen, dass er die Gattungsbeschreibung bewusst gewählt hat.
Eine Anekdote, die der Schriftsteller Helmut Krausser im Jahr 2008 unter der Überschrift Allen Lesern ins Stammbuch (18) auf dem Blog „Bonoventura – Lektüren eines Nachtwärters“ schildert mag illustrieren, wie aber der Buchmarkt mit dem Gattungsbegriff umgeht: „Mein nächstes Buch wird »Schmerznovelle« heißen. Es wird sich auch – wenigstens im Groben – an die tradierten Definitionen der Gattung Novelle halten. Vorgestern erreichte mich ein Anruf aus dem Verlag. Marketingabteilung. – Hörmal, Helmut, wie wärs denn mit: SCHMERZ Roman – Nein, das Ding heißt Schmerznovelle und basta. Heute der nächste Anruf. – Hörmal, Helmut, wie wärs denn mit: SCHMERZNOVELLE Roman.“
Geschieht dieses Verstecken novellistischer Schreibweisen aus einem ähnlichem Grund wie bei Daniel Kehlmann („Ruhm“), wo Erzählungen als Roman verlegt werden oder wie bei den Novellen Ferdinand von Schirachs („Verbrechen“), die als Erzählungen bezeichnet werden, also nach der marktechnisch am günstigsten gelegenen Gattung? – Anders sah das noch im 19. Jahrhundert aus, als die Novelle in der Blüte stand und Eduard Mörike 1832 seinen Roman „Maler Nolten“ eine Novelle genannt hat, um einerseits den Debütcharakter des Werks zu unterstreichen, um sich aber auch andererseits von Goethes „Wilhelm Meister“ abzugrenzen. Und wenn ein als Popautor lange angekommener Künstler wie Lottmann auf sein Buch „Novelle“ schreibt, bildet er natürlich eine antithetische Haltung zum Vorherigen; um dann aber wieder den Pop als Distinktionsmittel – wie der Kierkegaard bei Helmut/Walser oder „der Friedrich-Roman“ bei Aschenbach – hintenrum einzuführen, beispielsweise wenn er den Kanon des gealterten Popspezialisten gegenüber Agnes ausbreitet:
„Ich erfuhr, daß ihr Lieblingsfilm ‚Lola rennt‘ war und ihr Lieblingsschauspieler Christoph Waltz. Den Film ‚Das verflixte siebte Jahr‘ kannte sie, fand aber Marilyn Monroe darin blöd. Ich mochte Woody-Allen-Filme. Als Lieblingsfilm nannte ich ‚Ein unmoralisches Angebot’ mit Robert Redford, und da sie den nicht kannte, erzählte ich ihn ihr.“ – Eine Vierecksgeschichte wird in „Hotel Sylvia“ geboten, die Geschichte zweier Prinzipien: des kranken, von einem Schlaganfall gezeichneten Bruders Manfred und seiner ihn pflegenden Frau Jessica, einer typischen Deutschen, „der man alles wegnehmen durfte, nur nicht die schlechte Laune.“ Auf der anderen Seite der Held des Buchs, der vitale Erzähler, der seinen Bruder fast so lange nicht gesehen hat wie Helmut in „Ein fliehendes Pferd“ seinen alten Schulkameraden Klaus, begleitet von Agnes, die mit ihrem riesigen Rollkoffer aus der Heimat nach Italien nachreist und mit ihrer virilen Erscheinung den Helden becirct, den lebensunfrohen Manfred aber unberührt lässt (wer von den beiden Männern am Ende sterben wird, soll hier nicht verraten werden).
In der F.A.S. beschreibt Borderline-Journalist Lottmann die Handlung seines Romans als Reisebericht: „Es erwies sich als viel leichter, eine blonde junge Frau zu engagieren und nach Italien zu verbringen als meinen Bruder. (…) Meine Hoffnung lag in der jungen Schauspielerin, die ihre Sache gut machte und mich zu den wenigen schönen Stellen im Text anregte. Als Vorgabe hatte sie ‚Bonjour Tristesse‘ zu lesen bekommen.“
Dieses Novellenprojekt – mit seinen beiden wichtigsten, ihnen zugestellten Texten aus der taz und der F.A.S. – ist ein intertextuelles Gesamtkunstwerk, das bis in seine mediale Verästelungen angelehnt ist an Martin Walser, an Thomas Mann, die wiederum in ihren Erzählungen über die Entstehung ihrer Novellen wie Lottmann angegeben haben,„ganz ebenso [wie im ,Tonio Kröger‘] ist im ‚Tod von Venedig‘ nichts erfunden“ (Mann) beziehungsweise, hier werde eine „Lockerungsübung“ (Walser) geboten, um sich von einem anderen, großen Romanprojekt zu erholen; wie Lottmann es angibt mit einem natürlich erfundenen Großprojekt, wie es zum Beispiel Mark Z. Danielewski macht, der seit Jahren erzählt, er schriebe an einem 20-bändigen Epos, in dem keine Menschen, nur Katzen vorkämen.
Lottmann in der F.A.S.: „Die ‚taz’ titelte ‚Warum ‚Hotel Sylvia‘ nicht erscheinen darf‘. Mein Bruder rief mich an, genesen und tatenfroh, und verlangte Aufklärung. Ich gab sie ihm und schrieb weiter, an meinem islamkritischen Opus Magnum ‚Der Zweite Faschismus‘. Nie zuvor hat mir Schreiben so viel Spaß gemacht. Abends half ich als ehrenamtlicher Helfer im Flüchtlingsheim.“
Auch Juli Zeh hat in diesem Frühjahr mit ihrem Verwirrspiel um den Roman „Unter Leuten“ die Grenzen von Realität/Fiktion ausgetestet, in dem sie sich auf das Buch eines Erfolgstrainers berief, der gar nicht existiert, was erst rauskam, als man ihr vorwarf, aus dem Werk eben dieses Mannes dreist abgeschrieben zu haben – tatsächlich stammt wohl auch dieses Buch von ihr. Jan Böhmermann bekam erst vor Kurzem den Grimme-Preis für seinen #Varoufake. Es ist wieder Hochphase für ein Schreibprinzip, das man beispielsweise kennt von jenem Gonzo-Journalism, der in Deutschland auf vornehmliche Weise durch Joachim Lottmann vertreten worden ist. Dass er, der Pop-Autor (nun sagen wir es einfach doch) mit einer Novelle, geschrieben in alter Manier, die Musealisierung des Prinzips ebenso wie seine Fortsetzung betreibt, ist ein schöner Dreh, der – liegen alle Paratexte endlich vor – mindestens die Literaturwissenschaft eine Weile beschäftigen wird.
Dennoch kann man über „Hotel Sylvia“ das Gleiche sagen wie über guten Wein: Man kann zwar vortrefflich darüber reden, es macht aber ebenso Spaß, das Köstlichste freiheraus zu genießen. „Hotel Sylvia“ sei es gegönnt; und das ist die reine Wahrheit.
Joachim Lottmann: „Hotel Sylvia“, Haffmans & Tolkemitt, 126 Seiten, 14,95 Euro / Rolf Füllmann: „Einführung in die Novelle“, WBG, 160 Seiten, 17,95 Euro / Max Frisch: „Homo Faber“, Suhrkamp, 208 Seiten, 8 Euro / Thomas Mann. „Der Tod in Venedig“, Fischer, 144 Seiten, 6,95 Euro / Martin Walser: „Ein fliehendes Pferd“, Suhrkamp, 160 Seiten, 6,50 Euro
oh, vielen Dank für den Hinweis. Ich lasse den Fehler im Beitrag mal so stehen, als Beleg gestandener Fehllesung.
Helmut Krausser hat mit der Veröffentlichung auf Bon_a_ventura nichts zu tun; die Anekdote stammt aus einem uralten, längst vergessen Forum („Am Pool“ oder so ähnlich?) und wurde von mir einfach entführt. Aber sonst stimmt’s.