Fest steht das Bildwerk Carl Spitzweg, dieses 1808 in München geborenen, heiter-kauzigen Malers, der wie kein Zweiter die Biedermeierzeit begleitet hat. Seine kleinen Gemälde sind Vorbild für Eckhart Nickels neuen Roman – aber anders, als vorderhand vermutet.
Dieser „Spitzweg“ sichert Eckhart Nickels herausgehobenen Platz in der Gemäldegalerie unserer Gegenwartsliteratur. Das gelingt mit einem Vexierbild – denn zwei Gedanken drängen sich geradezu auf. Der erste gleich zu Beginn, wenn man sich inmitten eines Zeichengewitters aus philosophischen, kunsthistorischen, literarischen und popkulturellen Referenzen wähnt – und wünscht, alle Bücher dieser Welt gelesen, alle Filme und Bilder gesehen, alle Kompositionen gehört zu haben, um jeder intertextuellen Spur folgen zu können. Der andere Gedanke erscheint am Ende, wenn man das Buch zugeklappt hat. Erst einmal sind dieser Geschichte drei Zitate vorangestellt: von Arno Schmidt, der britischen Popband Prefab Sprout und zuletzt von Carl Spitzweg selbst: „Jede Linie mit Verstand, alles durchdacht, das Uninteressante interessant.“
Mut zur Hässlichkeit
Jedes Zitat steht für eine der drei Hauptfiguren, die während ihrer Abizeit freundschaftlich verbandelt sind; der idiosynkratische Carl, die weltabgewandte Kirsten und der namenlose Erzähler, den man nur als jenen Spitzweg’schen Hagestolz identifizieren kann, der auf dem Cover des Romans abgebildet ist – ein Einzelgänger, wie er aus erhöhter Position seine Mitwelt beobachtet. Diesen Typus des eingefleischten Junggesellen erhebt Nickel zum Denkmal und stellt es neben die beiden anderen von Carl Spitzweg und Adalbert Stifter aus dem 19. Jahrhundert. Und beschaulich wie in Spitzwegs Bild und Stifters Erzählung liest sich immerhin der Einstieg, wenn eine Kunstlehrerin in Rollkragen und Faltenrock gekleidet von Tisch zu Tisch schleicht, bei Kirsten, ihrer besten Schülerin stehenbleibt, auf ein nahezu vollendetes Selbstportrait schaut und sagt: „Ausgesprochen gelungen, Respekt: Mut zur Hässlichkeit!“
Literatur verändert Welt
Ab das wird es turbulent. Kirsten stürmt aus dem Klassenzimmer und ihre Mitschüler – Carl und der Erzähler – sinnen auf Rache. Sie fingieren einen Brief, vermeintlich von Kirstens besorgten Eltern geschrieben, direkt gerichtet an den Direktor dieser skandalösen Lehranstalt. „Voller Sorge möchten wir Ihnen mitteilen, dass unsere Tochter gestern nach der Schule nicht nach Hause gekommen ist. Es ist zwar nicht das erste Mal, dass das passiert, aber diesmal haben wir sie nicht bei Verwandten im Umland abholen können, sondern stattdessen dieses Bild im Eingang vor unserer Tür gefunden, das zweifelsohne von ihr selbst stammt.“
Der erfundene Text – ergo die Literatur – ist mächtig genug, eine Welt zu verändern, was in Nickels „Spitzweg“-Roman durch eine Volte aufgeht. Der Direktor kann nicht direkt bei den Eltern nachfragen, weil die zurückgezogen ohne Telefon oder Internet leben und in besagtem Brief schreiben, sie wollten allein über Kirstens Mitschüler kommunizieren; den Erzähler.
Diese ernsten Scherze
Dessen Intrige verästelt sich bis in die kleinsten Winkel dieser Geschichte, die nur auf der ersten Ebenen von einem bösen Streich erzählt, aber schon auf der zweiten eine Metareflexion über die Möglichkeiten von Kunst an sich ist, vorgetragen im Ton ernster Scherze. So räsoniert der Erzähler gleich zu Beginn:
„Gemälde an sich, wozu sind sie gut? Bevor ich eine Landschaft an die Wand hänge, blicke ich doch lieber durch ein Fenster auf sie hinaus. Und wenn mir danach sein sollte, einen Menschen zu sehen, bringe ich genau dort einen Spiegel an. Kunst versucht oft, beides zu sein, Fenster wie Spiegel, und kann doch weder das eine noch das andere ersetzen. Gerade, wenn sie versucht, das Leben wirklichkeitsgetreu abzubilden, zeigt sich das Ausmaß ihres Scheiterns besonders deutlich.“
Über Spiegel, Fenster und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit denkt dieses kluge Buch ebenso pausenlos wie pointenreich nach. Als würden die Abiturienten die Philosophien Bergsons, Blumenbergs und Richard Rortys „Der Spiegel der Natur“ aus dem Eff-Eff kennen. Ihr Streich gipfelt, dem entsprechend ambitioniert, in einer rasanten Kunstaktion.
Nur noch dieses Buch
Doch die eigentlichen Höhen oder Gipfel werden im Geiste erklommen, wenn Carl, Kirsten und der Erzähler in ihrem geheimen „Kunstversteck“ sitzen und über dünn gekleidete Malermodelle in zu kalten Badewannen diskutieren, über Frédéric Chopins „Nachtstücke“ und über die Frage, ob die Pfefferminztafeln „After Eight“ ihr Gegenstück in den einstigen „Afrika“-Keksen von Bahlsen haben. Es ist ein Palaver von Pennälern, ein Spaß aus zahlreichen Zitaten, der sich jedoch in einem wichtigen Punkt von den intertextuellen Spielen der sogenannten Popliteratur unterscheidet, mit der Nickel Ende der 1990er Jahre gestartet ist.
Damals war eine tiefe Kenntnis von Songs, Sounds, Filmen und Marken unabdingbar zum Verständnis popliterarischer Veröffentlichungen. In Nickels „Spitzweg“ aber muss keine Anspielung dechiffriert werden, nicht einmal ein Bild des Münchner Malers brauchen wir, um dieser Geschichte zu folgen. Man kann in die verschiedenen Ebenen eintauchen, ist dazu aber an keiner Stelle gezwungen, was nach der Lektüre zum zweiten, sich ebenfalls aufdrängenden Gedanken führt. Wer sich eingangs wünschte, alles gelesen, gesehen, gehört zu haben, der mag sich nun schwärmend vorstellen, wie es wäre, nur dieses eine Buch zu kennen, kein weiteres, keinen Film, kein Bild, keine Komposition.
Dann läge die Geschichte in ihrer reinen Schönheit vor einem, mehr Spiegel, denn Fenster, möglicherweise erscheint es auch als ein unendlich großes, leeres Regal. Da man aber doch gelesen, gesehen und zugehört hat, ist dieses Buch all das: Spiegel, Fenster, Rätsel, Regal – von der romantischen Sehnsucht getragen, hinaus zu treten, sub specie aeternitates, um von dort aus endlich klarer sehen zu können, was passiert. Nickels „Spitzweg“ ist ein Versteck für die Kunst oder vor der Kunst. Es liegt an uns, wie wir dieser faszinierenden Geschichte nahekommen. Sie begeistert ohnehin, so oder so.
Eckhart Nickel: „Spitzweg“, Piper, München, 256 Seiten, 22 Euro