Heute feiert der große Berliner Schriftsteller Hartmut Lange seinen 79. Geburtstag. Hier gibt es als Würdigung einen Blick auf seinen 2015 erschienenen Erzählband „Der Blick aus dem Fenster“. Das Beitragsbild zeigt Hartmut Lange im Kreis meines Münsteraner Unikurses beim Besuch 2014.
Die Literatur hat ihren eigenen Wahrheitsgrund. Da liest man diesen ersten Satz bei Franz Kafka: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Und seltsamerweise wird sich danach niemand fragen, ob eine derartige Metamorphose funktionieren kann. Schon bei den alten Germanen wechselten Götter ihre Gestalt wahlweise in Stuten, Fliegen oder Lachse. Beim Römer Ovid verwandelten sich Könige in Wölfe und Nymphen in Lorbeer. Erst 2012 erhielt Regisseur Woody Allen den Oscar für „Midnight in Paris“, eine romantische Filmkomödie, in der ein Drehbuchautor unserer Zeit allabendlich von einem Oldtimer abgeholt und ins Pariser Nachtleben der 1920er Jahre gefahren wird, wo er längst Verstorbene wie Nobelpreisträger Ernest Hemingway, Burlesque-Tänzerin Josephine Baker oder Surrealist Salvador Dalí trifft.
Wenn der 79-jährige Berliner Schriftsteller Hartmut Lange nun mit „Der Blick aus dem Fenster“ acht unwahrscheinliche Erzählungen vorlegt, steht er augenblicklich in dieser Erzähltradition. „Die Literatur hat ihren eigenen Wahrheitsgrund“, schrieb er 2011 in seinem hoch gelobten Band „Im Museum – Unheimliche Begebenheiten“ und ließ dort Exponate aus dem Deutschen Historischen Museum Berlins lebendig werden, des Nachts längst Verstorbene Hochzeit feiern, eine Wärterin spurlos verschwinden.
Dieses Merkwürdigkeiten gehen in „Der Blick aus dem Fenster“ weiter, wo Engelsstatuen in den Himmel abheben, das unruhige Meer einen Amoklauf provoziert, plötzlich die Jüdin Rahel Varnhagen in den Baustellen von Berlin Mitte auftaucht und dann, gleich zu Beginn erst ein Gemälde des französischen Impressionisten Gustave Caillebotte beschrieben wird, bevor der Ministerialbeamte Giselher Reinhardt behauptet, „das es von seinem Zimmer aus, wenn das Fenster geöffnet war, einen ähnlichen Ausblick gab.“ Nach acht Uhr abends bildet sich der Mann sogar ein, „er sähe, wie auf dem Gemälde von Caillebotte, statt der Autos, die den Platz überquerten, tatsächlich einige Kutschen.“
Diese Figur ist typisch für die Geschichte Langes, in denen seit über 35 Jahren vernünftige Menschen plötzlich irritiert werden. Es sind Geschichten, kurze Erzählungen, sehr oft Novellen, in denen sich wie von Geisterhand eine zweite Realität über die Gegenwart schiebt. Auch für diesen Reinhardt gelten „ausschließlich alle Absprachen, alle Verpflichtungen, die er dem Ministerium gegenüber, in dem er arbeitete, eingegangen war.“ Er lebt allein, pflegt „keine unnötigen Bekanntschaften“, ist nüchtern, verlässlich, neigt nie zu „Überspanntheiten.“ Aber er sieht Kutschen und aus einer dieser Kutschen steigt allnächtlich eine Frau. Sie wartet, ohne Schirm, im Regen. „Gnädige Frau“, wollte er rufen, „fahren Sie, um Gottes willen, wieder nach Hause. Sie sehen doch, es hat keinen Zweck, hier immer und immer wieder zu warten.“ Was geschieht dann? Nicht viel.
Die Geschichte endet mit den den beschwörenden Gedanken Reinhardts, der hofft, dass es irgendwann wieder still sein würde: „und er war froh, dass er dann keine Mühe mehr haben würde, sich mit einer Person bekannt zu machen, die nicht von dieser Welt, aber von einem berühmten Maler wenigstens überliefert war.“ – In einer Zeit, in der von Autoren wahlweise der Meta-Berlinroman, die literarische DAX-Analyse oder ein versgebundener Armutsbericht erwartet wird kommt Hartmut Lange mit immer wieder aufs Neue „unheimlichen Begebenheiten“. Dabei war er zu Beginn seiner Karriere durchaus ein engagierter, ein politischer Dramenautor, der Anfang der 1960er im Ost-Berliner Milieu um Peter Hacks und Heiner Müller reüssierte, an die Veränderbarkeit des Sozialismus glaubte, dann aber bitter enttäuscht abwanderte nach West-Deutschland. Dort veränderte sich sein Schreiben. Obwohl er in den 1970er Jahren an verschiedenen Theatern beschäftigt war, auch fürs Fernsehen arbeitete, wandte er sich 1979 mit „Die Selbstverbrennung“ einer philosophisch inspirierten Prosa zu, die stets knapp gehalten ist. „Diese Form ist in mir angelegt ist“, sagte er einmal, „ich schreibe ja wie Kleist. Bei mir wäre selbst der Zauberberg nur 30 Seiten lang.“
Den Kleistpreis bekam er zwar dennoch nicht, dafür aber den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 1998, den Italo-Svevo-Preis 2003 und gerade erst das Villa-Massimo-Stipendium in Rom. Ein so genannter Geheimtipp, ein „Writer’s writer“ blieb er die ganze Zeit, verkaufte sich trotz überschwänglicher Rezensionen selten gut. Das 1973 bei rororo veröffentlichte Kinderbuch „Rätselgeschichten“ ist nachwievor die auflagenstärkste Arbeit. Es wird also höchste Zeit, in das Werk dieses geheimen und geheimnisvollen Autors einzusteigen und „Der Blick aus dem Fenster“ eignet sich dafür ganz besonders. Denn hier spielt Lange zahlreiche Motive und Themen seines Schaffens in knappster Form durch – die kürzeste Geschichte ist gerade einmal sechs Seiten lang.
So geht es, wie bereits 1984 in „Die Waldsteinsonate“ in den Führerbunker kurz vorm Selbstmord der nationalsozialistischen Führungsriege. Während der wieder auferstandene Komponist Franz Liszt in der ersten Geschichte panisch die Ermordung der Goebbels-Kinder zu verhindern sucht, ist es nun in „Nochmals: Das Böse“ Hitlers Geliebte Eva Braun, die nach der Blitzhochzeit und kurz vorm geplanten Selbstmord zweifelt, ob es wirklich unungänglich sei, „mit jemandem, den die ganze Welt, und über Jahre hinweg, zu fürchten hatte, auch noch zu sterben?“
Wenige Seiten zuvor wandelt ein Amokläufer nach seinem Tod weiterhin an der Irischen See und trifft täglich auf jene zwölf Menschen, die er erschossen hat und die sich nicht zufriedengeben wollen mit der Begründung „die See“ habe ihn motiviert. Bei Lange ist den Toten gegenüber ist Rechenschaft abzulegen, sie kommunizieren untereinander, sie leben weiterhin unter uns, aber bei Lange nicht nur in Form von Geschichtsbüchern und Exponaten aus dem Deutschen Historischen Museum. Denn ebenfalls 1984 erschien Langes „Die Heiterkeit des Todes“, in der sich ein Zuschauer echauffiert, weil er am Grunewaldsee beobachten muss, wie eine ermordete Jüdin mit ihrem später gehenkten Nazi-Schlächter pussiert. Wie unheilvoll hätte jener Satz der Jüdin interpretiert werden können: „Man soll die Toten in Ruhe lassen, besonders wo sie euch überlegen sind!“
Gemeint ist selbstverständlich nicht, dass der barbarische Terror des Nationalsozialismus in Wirtschaftswunderweise unter den Teppich gekehrt werden sollte. Im Gegenteil. Doch Lange erinnert immer wieder eindrücklich, was geschieht, wenn Individuen plötzlich zu reinen Opfern gemacht und dadurch ent-individualisiert werden. In der Literatur und im Tod, die beide ihren eigenen Wahrheitsgrund haben, ist eine neue, vielleicht sogar noch schrecklichere Sicht möglich, wie in einer weiteren Geschichte des neuen Lange-Bandes. „Die Begegnung“ stellt die große Rahel Varnhagen von Ense vor, die im Berlin unserer Tage auftaucht, sich nach Zeugnissen ihres berühmten Salons in der Behrenstraße erkundigt, als nach Belegen ihrer eigenen Unsterblichkeit sucht, aber vor einer grausamen Entdeckung steht.
„Die Behrenstraße ist nun allerdings ein Bereich, der das Denkmal für die ermordeten Juden Europas eingrenzt, und wer dem Areal, es sind immerhin neunzehntausend Quadratmeter, näher kommt, der kann sich der schwarzen Steinwüste, die er vor Augen hat, nicht entziehen. ›Sie geht also‹, dachte ich, ›geradewegs dorthin, um sich davon zu überzeugen, dass ich mit meinen Andeutungen recht hatte. Denn dort‹, dachte ich, ›hat man ein für allemal dokumentiert, dass sie, die Jüdin, in ihrem Wunsch zu überleben nichts weiter zu erwarten gehabt hätte, als ihre Auslöschung.‹“ – Dieses Buch lässt einen atemlos und verstört zurück.
Hartmut Lange: „Der Blick aus dem Fenster“, Diogenes, 112 Seiten, 19 Euro
[…] an diesem Wort zu messen?“ – Nun, Literatur hat ihren eigenen Wahrheitsgrund (Hartmut Lange). Dorthin kommt auch Dath, wenn er schreibt: „Dass Romane wahr sein können, erscheint uns heute […]