Ursula Priess ist die älteste Tochter von Max Frisch. Ihr Schlüsselroman „Sturz durch alle Spiegel“ erzählt von einer großen Liebe, einer Menge schmerzhafter Erinnerungen – und dem toten Herrn Papa.
Eine Frau, nicht mehr ganz jung, erzählt ihrem Liebhaber in Venedig, was sie bisher erlebt hat, als „Tanz auf dem dünnen Eis der Gegenwart“, was vielleicht ein bisschen unbeholfen klingt – aber wann sind Liebende schon souverän? Das junge Paar sitzt also am Markusplatz, er trinkt Whiskey, sie Sherry, und der Mann wird indiskret: „Der Frisch also, der ist ihr Vater?!“ fragt er und sie erschrickt. Dann bricht es unpassenderweise aus ihm heraus: „Nun, da sie mit Literatur zu tun haben, kennen sie ja vielleicht die Ingeborg Bachmann.“
Die Frau, es ist Ursula Priess, die hier sitzt und immer unsicherer wird, antwortet höflich: „Ingeborg Bachmann? Ja natürlich kenne ich sie, und da sie einmal die Lebenspartnerin meines Vaters gewesen ist, kannte ich sie auch persönlich, ein bisschen jedenfalls.“ Sie lenkt ab, erzählt weiter, von einer Reise nach Istanbul, über glückliche Zufälle und „zufälliges Glück“, über ihre Arbeit als Heilpädagogin, von Schottland, Schweden und ihrer Heimat – der Schweiz.
„In ‚Sturz durch den Spiegel‘ wird der Bestand einer schwierigen Tochter-Vater-Beziehung aufgenommen“, sagt Ursula Priess im Interview, „lange Vergessenes, Verdrängtes, Versenktes wird wieder zutage gefördert.“ Hier erzählt sie ihre Geschichte, denn „man kann nicht leben mit einer Erinnerung, die ohne Geschichte bleibt.“ – Genau so steht es als Leitmotiv im 1964 erschienenen Roman „Mein Name sei Gantenbein“, einer anderen Liebesgeschichte, die natürlich nicht Ursula Priess, sondern ihr Vater Max Frisch erfahren und erzählt hat.
Das Gegenüber von Gantenbein ist hier eine Chiffre für die Klagenfurter Dichterin Ingeborg Bachmann, also jene Frau, die den Mann am Markusplatz viele Jahre später so massiv interessiert. – Ursula Priess wird später erfahren, dass er der Nebenbuhler war, der die Beziehung zwischen Gantenbein und seiner Lila, zwischen Frisch und Bachmann damals störte, dass sie wieder einmal enttäuscht worden ist, weil er nicht sie meinte, als er sie umwarb – sondern die Geliebte ihres toten Schriftstellervaters. Es ist ein Schock.
„Die Dramatik liegt in der erneuten Konfrontation mit den drei lebenslang mitgeschleppten Motiven“, sagt die Autorin, „dem Stellvertreter-, dem Verstrickungs- und dem Verlassenheitsmotiv.“ Diese beiden Liebeserzählungen, beide rührend und verzweifelt, die Erzählung des Vaters und die seiner Tochter, vermischen sich in „Sturz durch alle Spiegel“, stehen sich spiegelbildlich gegenüber: die Liebe zwischen Ingeborg und Max und die zwischen Ursula und dem Unbekannten.
Man kann sich gut vorstellen, wie die Tochter, die sich immer vom Bild ihres Vaters lösen wollte, an einen fremden Ort reist, nach Venedig, sich auf den Flirt einlässt, einen neuen Anfang spürt, dann quasi aus dem Nichts mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird und stürzt, tief hinab, mal wieder, durch alle Spiegel. – „Der heute weitverbreitete Wunsch nach totaler Selbstverwirklichung des Individuums könnte unter anderem Ausdruck eben dieser Nichtakzeptanz sein“, sagt Ursula Priess, „da er ja immer die Sehnsucht in sich trägt, alles Alte abzuschütteln, die Fremdbestimmung endlich loszuwerden.“
„Sturz durch alle Spiegel“ ist eben nicht in erster Linie eine Annäherung zwischen zwei verletzten Menschen, die unbedingt geliebt werden wollen. Es ist vor allem eine Vater-Tochter-Geschichte, die von allseits bekannten Ängsten erzählt. Priess’ Ängste sind auch die unsrigen: Die Angst vorm Tod des Vaters, nicht nur zum Schluss, als er tatsächlich stirbt, sondern bereits als Kind am Sylter Strand, als sich Max Frisch in die Nordseewellen stürzt und quälende Augenblicke lang unter Wasser bleibt; bis er doch wieder auftaucht.
In diesem Sommer ist Ursula Priess noch überglücklich, als ihr Vater nicht ertrunken, sondern nur für ein paar Sekunden untergegangen ist, glücklich, dass er wieder auftaucht aus dem unbändigen Meer, aus der Tiefe der See. Dass eben dieses immer neue Auftauchen später verletzend sein würde, das ahnt das Mädchen in diesem Sommer selbstverständlich noch nicht.