Abstandhalten ist seit Beginn der Corona-Pandemie zivilisiertes Gebot der Stunde. Von einer Aufdrängung und einem drohenden Tod berichtet nun „Was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah“ – eine Erzählung, die das Sterben als Unverschämtheit zeigt.
Dieser Mann weiß, dass er in seinem Leben etwas aus sich gemacht hat. Er war alleiniger Geschäftsführer einer Künstleragentur, hat Sänger und Schauspieler vermittelt, Tourneen organisiert und Verträge ausgehandelt, sich empört und wieder beruhigt, gespendet und kondoliert, seine Steuern und Abgaben bezahlt, gewählt und gehandelt, „jetzt wollte ich meine Ruhe haben. Aber mein Gast wollte das verhindern.“
Er, der immer dafür gesorgt hat, dass der Laden läuft, sitzt abends am Flughafen Paris-Orly und muss erfahren, dass gerade gar nichts läuft – und es nicht in seiner Macht liegt, diesen Missstand zu beheben. Der avisierte Flug nach München fällt aus. Die Passagiere müssen eine Nacht in Paris bleiben, werden mit Sammeltaxis in ein anspruchsloses Kettenhotel gebracht, mit lauwarmer Pizza abgespeist – und sich selbst überlassen.
Gewiss nicht der Messias
Sich selbst überlassen zu werden, birgt auch die Chance zur Ruhe, doch die Ruhe dieses hier vorgestellten älteren Mannes im Ruhestand wird empfindlich durch einen plötzlich hinzustoßenden, ebenfalls alten Mann gestört, der vor allem dadurch auffällt, dass er nicht wie alle anderen aussieht. „Kein Tourist, kein Geschäftsreisender, kein Politiker oder Beamter. Und ganz gewiss nicht der Messias. Obwohl – keiner wusste ja, wie er aussah. Wahrscheinlich sah er so aus wie ich und du.“
Dieser Mann sucht ungeniert die Nähe des Erzählers, setzt sich neben ihn, eröffnet eine Konversation und sagt: „Ich habe alles hinter mir gelassen.“ Dafür, dass er alles hinter sich gelassen hat, trägt er erstaunlich viel bei sich. Sein Jackett ist prallgefüllt mit Notizbüchern, einem Taschenmesser und einem Flaschenöffner, mit einer unübersehbaren Menge an Pillendosen und Arzneimittelröhrchen, die er vor aller Augen ausbreitet.
Eine unheimliche Vitalität
Es ist die klassische Exposition eines Zaubertricks, denn auch auf der Bühne werden dem Publikum im ersten Akt gewöhnliche Gegenstände gezeigt, mit denen dann im zweiten Akt wiederum etwas Ungewöhnliches geschieht. Im ersten Akt soll Neugier hervorgerufen werden – und das gelingt dem Alten mühelos. Sein Gegenüber hängt sofort am Haken.„Mir gefiel die unheimliche Vitalität des alten Herrn, dieser Lebenswille, der keine Rücksicht nimmt auf kleinliche Bedenken von zufälligen Nachbarn, die es aus Gott weiß welchen Gründen ablehnen, zum Garderobenständer degradiert zu werden“
Der Erzähler ist da von ganz anderem Schlag, bis in die kleinsten Verästelungen seines Lebensentwurfs verfeinert, ein Mann, der mittags Oktopus-Salat isst und dabei an Diogenes von Sinope denkt. Ein Mann, aus der Ferne mit Eduard von Keyserling verwandt, der nicht nur den Wert, sondern auch den Preis seiner Umgebung taxieren kann und beim Anblick eines Pelzmantels unweigerlich an den russischen Schriftsteller Iwan Turgenew denken muss – ein Mann wie Michael Krüger, der Autor dieser Erzählung, möchte man sagen und stellt sich den früheren Chef des Carl Hanser-Verlags instinktiv vor; wie er versucht, einen lästigen Menschen auf Abstand zu halten.
Wie ein Schimmelpilz
In der Geschichte ist dieses Abstandhalten unmöglich, weil sich der Andere raffiniertester Manipulationen bedient, um den Erzähler Trick für Trick an sich zu binden. Nach der Rückkehr in München wird er sogar bei ihm einziehen und seinen Lebensraum wie einen Schimmelpilz durchwirken. Instinktiv nutzt dieser Parasit die größte Schwäche seines Wirts aus –der Erzähler hat nämlich nie gelernt, zwischen Dingen, die man getrost an sich heranlassen kann, und solchen, die man auf Distanz halten muss, zu unterscheiden. „Statt mich in bestimmten Momenten oder Situationen umzudrehen und einfach zu verschwinden – wie es alle machten, die es zu etwas gebracht haben –, blieb ich stehen, zeigte Interesse, bot meine Vermittlerdienste an oder legte ein Pflaster auf die Wunde.“
Im aussichtslosesten Moment hat der Alte längst den kompletten Lebensraum des Erzählers okkupiert. Da kommt es, wie in jeder Zaubershow, zu einer dramatischen Wende. Nicht zu viel soll verraten, doch vielleicht wenigstens der Hinweis gegeben werden, dass dieser sich aufdrängende Fremde möglicherweise der Tod höchstselbst ist – und dass Michael Krüger, der Autor dieser Todes-Aufdrängung, als Leukämiekranker auch vom Tod bedrängt wurde, nicht fiktiv, sondern höchstreal, was nicht nur jenen bekannt ist, die seine „Gedichte aus der Quarantäne“ gelesen haben, die vor zwei Jahren wöchentlich im Magazin der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht und 2021 in seinem Gedichtband „Im Wald, im Holzhaus“ erschienen sind.
Fanal gegen das Sterben
Krügers Blutkrebs-Therapie begann mit dem weltweiten Ausbruch der Corona-Pandemie 2020. Da seine Immunabwehr damals auf null stand und ihn bereits ein fernes Husten umgeworfen hätte, isolierte er sich in einem Holzhaus nahe des Starnberger Sees. Vor diesem Hintergrund ist die intellektuelle Gedankenleistung seiner Geschichte umso berückender. Michael Krüger transzendiert mit dem psychologischen Duell der beiden alten Männer das eigene Sterben, erhebt es zur faszinierenden, im gehobenen Ton dargebrachten Groteske. Seine Erzählung über das, „was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah“, ist ein Fanal gegen das Sterben, trickreich zeigend, wie der Tod – paradoxerweise – überlebt werden kann.
Michael Krüger: „Was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah“, Suhrkamp, Berlin, 222 Seiten, 22 Euro