Es muss Heimat finden, das „innere Kind“, fordert der Sachbuch-Bestseller von Stefanie Stahl. Noch anschaulicher zeigt nun Anselm Neft mit „Späte Kinder“, wie wir zu einer Sprache und einer Form der transgenerationalen Bearbeitung schwerer Traumata finden. (Das Beitragsbild hat Anselm Neft fotografiert)
An einer besonders schmerzhaften Stelle dieses an vielen Stellen schmerzhaften Romans erinnert sich ein erwachsener Mann an den gewalttätigen Vater und fragt, „wie bekommt man das hin: ein Kind zu schlagen. Nicht nur auf den Hintern, sondern ins Gesicht, oder mit der Faust auf den Rücken. Was geht da in einem Mann vor? Auf einen Menschen einprügeln, der fünfmal kleiner und zarter ist als du selbst. Wie fühlt man sich danach?”
Thomas, jener Mann, der weiterhin erschrickt ob der Monstrosität seines einstigen Erziehungsberechtigten, ist 46 Jahre alt. Kurz nachdem die Mutter im Hochsommer 2019 gestorben ist, sitzt er mit seiner Zwillingsschwester Sophia im verlassenen Elternhaus. Gemeinsam werden sie wieder Kinder, „Späte Kinder“, die erfahren, dass Gewaltstrukturen, die sich vor langer Zeit in die Körper ihrer Eltern und Großeltern eingeschrieben haben, nach wie vor auch in ihnen wirken, dass diese Gewaltstrukturen weiterhin Einfluss haben selbst auf intimste Entscheidungen.
Posttraumatische Belastungsstörungen
„Im Laufe der Jahre hat Thomas gelernt, Begriffe wie ‚Borderline’, ‚bipolar’ oder ‚posttraumatische Belastungsstörung’ mit Erfahrungen zu verbinden, die sich bis heute phasenweise in seinem Körper zu Verhärtungen, Beklemmungen und Schmerzen verdichten. Immer hat er seine ‚schwierigen’ Partnerinnen verteidigt und sich Rechtfertigungen für ihr Verhalten zurechtgelegt, während gleichzeitig Zweifel seine Tage beherrschten. Immer hat er geglaubt, er habe die Macht, andere Menschen zu ändern, auch wenn das schon bei den eigenen Eltern nicht geklappt hatte.“
Trist und trostlos könnte die Stimmung sein, doch der Roman verfällt an keiner Stelle in Larmoyanz. „Späte Kinder“ kontrastiert die Tragik des Gezeigten durch immer wieder aufblitzenden, schneidenden Humor. – Sophia weiß seit wenigen Tagen, dass sie, die gerade ihre Mutter verloren hat, selbst unheilbar an Krebs erkrankt ist und nicht mehr lange leben wird. Thomas hat lediglich seine langjährige Partnerin verlassen und trifft sich mit einer blutjungen Studentin, was seine Schwester sarkastisch kommentiert, ja geradezu stoisch angesichts des eigenen Sterbens: „’Und jetzt wohnst du bei der jungen, engagierten Feministin?’ – ‚Sie heißt Rabea.’ – ‚Ja, toller Name. Und bei der im Kinderzimmer wohnst du jetzt?’“
Trauer und Todesangst
Es ist der bittere Humor einer Kynikerin. Sophia – ihr Name bezeichnet, aus dem Griechischen übersetzt, „die Weisheit“ – ist widerstandsfähiger als ihr Bruder, der weder seinen, noch den Verfall seiner Schwester ertragen kann. Und diese Zerbrechlichkeit hat einen Grund, den „Späte Kinder“ auf kriminalistisch enträtselnde Weise offenlegt. Im abnehmenden Licht des sich zum Ende neigenden Jahres zeigt der Roman zwischen Trauer und Todesangst, wie die zerstörte Kriegskindheit der Eltern auch die Kindheit ihrer Nachkommen unmöglich machte. An einer Stelle sagt Sophia: „Ihr Erwachsensein kommt ihr wie eine Maske vor. Sie hat damit überspielt, dass sie noch nicht einmal richtig Kind gewesen ist. Aller Frieden, den sie erreicht hat, ist faul. Bald muss sie gehen und ist noch gar nicht irgendwo angekommen.“
Bekannt ist die transgenerationelle Vererbung unbearbeiteter Traumata. Was den Großeltern und Eltern widerfahren, aber nicht zur Sprache gebracht worden ist, arbeitet in Enkeln und Kindern weiter. Die kollektive Verdrängung nationalsozialistischer Verbrechen bezeichneten die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich bereits 1967 als „Die Unfähigkeit zu trauern“. Hinweisgebend steht dieses Buch, ebenso wie der toxische Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, in der Bibliothek von Thomas’ und Sophias Eltern.
„Schließlich sind die Bestände durchgesehen. Die Mehrheit der Bücher werden sie zu Antiquariaten, öffentlichen Bücherboxen und Secondhandläden wie Oxfam bringen müssen. Sophia hat das befriedigende Gefühl, etwas Wichtiges geschafft zu haben.“
Raubtier im Gewächshaus
Das tatsächlich Wichtige liegt allerdings noch vor Thomas und Sophia, die nicht nur die Bibliothek, sondern auch die Verstrickungen der Vergangenheit endlich auflösen wollen. Die Geschwister wagen ein Rollenspiel. Wechselseitig nehmen sie in Gesprächen die Identität mal des Vaters, mal der Mutter an – und befragen einander. Endlich kommt auf den Tisch, was jahrzehntelang unter den Teppich gekehrt wurde. Zurückgelassene Tagebücher werden zu Stichwortgebern.
Beklemmend nahegehende Erinnerungen katapultieren das erwachsene Geschwisterpaar in die Kindheit ihrer Eltern, lassen sie beispielsweise noch einmal jene Nacht erleben, in der ihre Mutter kurz nach Kriegsende ins elterliche Gewächshaus tritt und wiederum ihre Mutter sieht, die augenscheinlich von einem US-amerikanischen Soldaten bedroht wird – da die Deckerzählung des Kindes den Mann gegen ein Raubtier eintauscht.
„Sie freut sich überhaupt nicht, dass ich sie gefunden habe. Sie guckt böse. Der Tiger schaut einfach nur. Jetzt weiß ich, dass meine Mutter geschrien hat vorhin. Der Tiger hat ihr eine Pranke unten in den Körper gestoßen. Ich habe Angst, dass sie verblutet. Ich liebe meine Mutter. Aber ich glaube, ab jetzt liebt sie mich nicht mehr.“
Die Sprachlosigkeit der Anderen
Was die Großmutter erlitten, die Mutter gesehen und die Kinder nun aus der tiefen Vergangenheit in die Gegenwart holen, ist ungeheuerlich, eigentlich kaum in Worte zu fassen. Aber genau dieses In-die-Worte-Fassen angesichts der Pranke, die in den Großmutterkörper gestoßen wird, ist die kaum hoch genug zu schätzende Leistung dieses Romans – ans Herz gelegt all jenen, die auf poetische Weise nicht nur wissen, sondern wirklich erfahren wollen, wie ihr inneres Kind aus der bedrohlichen Fremde in eine schützende Heimat geführt werden kann. Eindrucksvoll führt „Späte Kinder“ vor Augen, wie die Sprachlosigkeit der Anderen aufgelöst wird in eine literarische Gegensprache und Form, mit der sich sogar die Frage beantworten lässt, was möglicherweise vorgeht in einem Mann, der auf Menschen einprügelt, die fünfmal kleiner und zarter sind als er selbst.
Anselm Neft: „Späte Kinder“, Rowohlt, Hamburg, 292 Seiten, 22 Euro