Leona Stahlmann erzählt von den letzten Tagen der Menschheit. Während Tiere notgeschlachtet werden, die Felder verdorren und in den Blumenkästen des untergegangenen Venedig Jakobsmuscheln wachsen, sucht ein 12-jähriger Junge nach den letzten schönen Phänomenen einer bedrohten Gegenwart. (Das Beitragsbild zeigt einen Ausschnitt aus dem „Fleisch“-Zyklus von André Kern aus Wuppertal.)
Wir sind mal wieder am Ende der Zeit und manche suchen bereits nach geeigneten Heilsbringern. Politische, ökologische und gesellschaftliche Katastrophen, so scheint es, beenden eine lange Phase des umschmeichelnden Friedens, und ein Teil der Literatur wendet ihren Blick auf die Schönheit des gerade Untergehenden, findet augenzaubernden Trost in naturversunkener Poesie. Andere Texte suchen mit ihren identitätspolitischen Plots nach den verbliebenen Freiräumen individueller Eigenständigkeit, während die globalen Probleme längst größer sind als der angsterfüllt Vereinzelte. Den Spannungsraum zwischen endlich weggerissenem Schleier – der Apokalypse – und ästhetiksüchtigem Individuum betrachtet Leona Stahlmann mit „Diese ganzen belanglosen Wunder“. Der Roman spielt in einer gar nicht so fernen Zukunft, wo sich vollzogen hat, was gegenwärtig noch antizipiert wird.
“In diesem Sommer töten sie die Rinder. Seit Mai schon steht das Wasser in den Speichern vor der Stadt niedrig, die Ernten verdorren, das Getreide, das Gras und die Zuckerrüben, den Bäckern geht das Mehl aus, den Bauern das Futter und das Wasser für die Tiere, und im August löst sich ein neues Salz in der Luft über der Marsch, ein roher Geruch, der in der unbewegten Luft stockt und sich auf unsere Zungen legt, wir kauen ihn mit den letzten Kanten altem Brot und schlucken ihn mit dem Gin, für den es keine Petersilie mehr gibt: das Salz von Tierblut.”
Die ersten Inseln versinken im Meer
In einer nördlich gelegenen Marschlandschaft hat sich Leda mit ihrem zwölfjährigen Sohn Zeno evakuiert. Sie leben auf dem Gelände einer stillgelegten Saline und die Vokalendungen ihrer Namen deuten bereits an, dass Alpha und Omega in dieser Zwischenzeit zusammenfinden. Leda und Zeno stehen für Anfang und Ende einer Gegenwart des sich stetig vollziehenden Niedergangs. Venedig ist überflutet, in den Blumenkästen der Lagunenstadt wachsen nun Jakobsmuscheln statt Begonien.
“Im Pazifik sanken nördlich der Fidschis die ersten Inseln aus den Seiten der Atlanten und tauchten in den Geschichtsbüchern wieder auf.” – Noch kommen Kapitalismus und gesellschaftspolitische Ordnungssysteme zu ihrer Geltung. Außerhalb der Saline gibt es Lieferdienste, Konferenztische und Schulgebäude. Auch Zeno muss sich auf ein Erwachsenleben vorbereiten, das vor Herausforderungen steht, die Kunst- und Grammatikunterricht nicht mehr lösen können.
Was da ist – und was nicht
Doch anders als Umweltbewegungen wie „Fridays for Future“ hat Zeno das Kämpfen gar nicht erst angefangen. “Zeno, die ganze kleine, dünne, weise Person Zeno und sein Leben bauen auf einem Dreiwortsatz auf: was da ist. Was nicht da ist, was es nicht gibt, ist nie entscheidend; es ist nicht einmal wert, erwähnt zu werden.”
Der Zwölfjährige kann Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden und das Unveränderliche identifizieren, man denkt sogleich an das berühmte Gebet der Anonymen Alkoholiker, „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann“. Statt zu klagen archiviert, katalogisiert, sammelt Zeno Augenblicke, Schönheit, Mysterien; aussortierte Zaubersprüche ebenso wie Erinnerungen an Nächte, die sich in Busscheiben der Linie drei spiegeln. Er ist anders als jene Erwachsenen, die weiterhin wünschen, der Schierlingsbecher möge an ihnen vorübergehen.
“Wir hatten ein Trinkspiel, es ging so: Wir setzten uns im Kreis um die 20-Uhr-Nachrichten. Wenn sie nichts mit uns zu tun hatten, tranken wir. Wir tranken andauernd. Dann merkten wir es. Schluckten trocken. Und tranken noch mehr. Wir hatten uns an den Rändern der Katastrophe gut eingerichtet.”
Der bedrohliche Ton der Äolsharfe
Der Roman entfaltet sich in zwei Teilen. Der erste ist als Entwicklungsgeschichte des sich langsam von der Mutter lösenden Kindes angelegt. Die zukünftige Welt mit ihren vage an unsere Gegenwart erinnernden Fetischen wird hier entworfen, von den Träumen, Getriebenheiten und von Filmen berichtet, die ausschließlich Gegenstände in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellen. Der Mensch ist längst an sich selbst ermüdet, will nur noch Möbel anschauen. So vergehen die Tage im stetig unheimlicher werdenden Ennui.
„Es hat ein Summen in der Luft gelegen an diesem Abend, wie wenn man ein Weinglas zum Singen bringt, dünn und dringlich.“ – Der Äolsharfenton kündigt bereits die Schindung der Menschheit an. Leda wird irgendwann alles zu viel. Sie flieht und lässt Zeno, ihr Kind, allein zurück. Aber dieser Junge verzweifelt nicht, obwohl er nun ohne Mutter weiterleben muss. Zeno und seine nahezu seherischen Fähigkeiten werden zum Mittelpunkt einer Kommune, die mit neuen, wahlverwandtschaftlichen Formen des Zusammenlebens experimentiert. Sein Gleichmut zieht all jene an, die mühselig und beladen sind.
„Die Bauern verbrennen die Tiere auf den Feldern, es ist so heiß, dass die Kühlsysteme der Schlachthallen ausfallen, und zum ersten Mal lassen wir morgens die Fenster geschlossen, die Schornsteine der Bäckereien sind kalt, es gibt keinen Zucker und keine Hefe, keine Butter und keine Milch, um den Geruch zu überdecken, der von den Feldern kommt, und dann findet Zeno die Lösung. Der Zeitpunkt könnte nicht besser sein. Wir wissen, dass es nicht darauf ankommt, was wir tun. Das ist noch nie das Entscheidende gewesen.“
Katechismus einer neuen Zeit
Es kommt drauf an, wie wir den Erscheinungen unserer Realität begegnen. „Diese belanglosen Wunder“ ist ein post-dekadentes Statement über neue Freiräume. Beeindruckend verbinden sich „Nature writing“, „Climate fiction“ und Gesellschaftspolitik zu einem poetischem Stoizismus. Diese Geschichte beruhigt sich durch ihre wertfreie Beobachtung – und das messianisch kluge Kind avanciert so zur melancholischen Hoffnung. Wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, wird die Menschheit nicht nur verstehen, dass man Geld nicht essen kann. Sie wird sich möglicherweise auch an Leona Stahlmanns „Diese ganzen belanglosen Wunder“ erinnern und hier den Katechismus einer neuen Zeit entdecken.
Leona Stahlmann: „Diese ganzen belanglosen Wunder“, dtv, 400 Seiten, 22 Euro.