Dana von Suffrin zeigt in ihrem zweiten Roman den Wiederholungszwang als poetisches Prinzip. Ihre Episodengeschichte erzählt von Traumata, vermeintlichen und tatsächlichen jüdischen Identitäten und kommt en passant mit Humor in jeder Lebenslage.
Der Wiederholungszwang, 1920 von Sigmund Freud beschrieben, ist einer der rätselhaftesten menschlichen Impulse, da es vorderhand unsinnig erscheint, immer wieder dieselben Fehler zu begehen, auch wenn man sie als solche erkannt hat. Obwohl das Ich im Wiederholungszwang eine extreme Unlust erfährt, drängt es zu den immer gleichen Situationen, Handlungen und Gedanken – als begänne alles „Nochmal von vorne“, wie es der neue Roman Dana von Suffrins bereits im Titel suggeriert. Sie erzählt in kreisenden Bewegungen, episodenhaft, die Geschichte der ungleichen Schwestern Nadja und Rosa; letztere ist die Ich-Erzählerin.
Die beiden sind wie Feuer und Wasser. Selbst nach dem Tod ihres Vaters streiten sie „und Nadja antwortet, sie habe nicht nur unter den Eltern gelitten, sondern auch unter mir, und ich sage, das sagt die Richtige, denn du bist doch einfach immer abgehauen, und Nadja sagt, sie sei abgehauen, weil sie, und jetzt gerät sie ins Stocken und sie wird ein bisschen pathetisch, und plötzlich erinnert sie mich an die nervigen mittelalten Kammerspiele-Schauspielerinnen, die beleidigt gucken und in sehr klarem Hochdeutsch sprechen, plötzlich sagt sie, sie habe eben ein Zuhause gesucht und dieses Zuhause habe sie erst sehr spät gefunden, aber besser spät als nie“.
Händchenhaltend in Dachau
Die ortlos wandernde Seele, die hilflos ein Zuhause sucht, ist geborgen im Ahasver-Mythos, des „ewigen Juden“. Dieser ist eines von zahlreichen, mit dem vermeintlich jüdischen Wesen identifizierten Phänomene dieses Romans. Der Tod des Vaters zwingt Rosa ebenso zwangsläufig wie zwanghaft in die Rückschau, die, orchestriert in wechselnden, achronologisch durcheinandergeratenen Anekdoten, den größten Erzählpart einnimmt. Rosa erinnert sich an ihre eigene Kindheit, an das Verhältnis zur Schwester und selbstverständlich auch an die komplizierte Ehe ihrer Eltern.
„Es wäre natürlich schöner, die Geschichte einer großen Liebe zu erzählen, einer Liebe zwischen einer Deutschen und einem Israeli, zwischen einer Katholikin und einem Juden, die sich gegen alle Widerstände durchgesetzt haben, die händchenhaltend durch die Gedenkstätte in Dachau spaziert sind, die spekuliert haben, ob das erste Kind ihre blauen oder seine schwarzen Augen bekommen würde oder eine Mischung daraus, vielleicht grün oder schlammfarben (so wie ich), aber so war es natürlich nicht, es war ganz anders, es war völlig banal.“
In die Liebe gestolpert
Die Banalität liegt auch im ereignisarmen Kennenlernen ihrer Eltern, eine Anbahnung zu Studentenzeiten im München Anfang der 1980er Jahre. Der Vater stolpert im Café über zwei Füße und benimmt sich derart ungeschickt, dass sich seine spätere Gattin zwangsläufig verlieben muss. In dieser Szene ereignet sich keineswegs der einzige Stolperer dieses klug gebauten Romans, in dem auch andere Figuren ins Straucheln geraten und „Nochmal von vorne“ ansetzen müssen.
Jede einzelne Person steckt in ihren Neurosen fest, und die Geschichte der Eltern, die chaotische Kindheit von Rosa und Nadja, die Besuche bei Großmutter Zsasza in Israel, bilden ein kaleidoskopisches, aus eben diesen Neurosen zusammengesetztes Wimmelbild. Dana von Suffrins Versuch, die komplexe Familie abzubilden, wird zusammengehalten durch eine Rahmenerzählung, durch den Trauer- und damit Abschiedsprozess der plaudernden, in ellenlangen Schachtelsätzen parlierenden Erzählerin, die sich nicht nur den Kitsch, sondern auch allerlei andere Sentimentalitäten untersagt, „denn immer, wenn etwas Schreckliches passiert, muss ich sofort an etwas Lustiges denken, ich lüfte jedem Gespenst das Leintuch und entdecke darunter etwas unendlich Witziges, und es ist fast so wie bei meiner Mutter, die auch nie den Schrecken für sich stehen lassen konnte.“
Trauma als Farce
Daher kann Rosa humorvoll auf die bockige Kapriolen Nadjas schauen, die nicht einmal die Nummer ihrer Schwester ins Telefon eingespeichert hat. Sie mag ihre Mutter vermissen, die ihre Familie Richtung Thailand verlassen hat und dort verschollen ist, sie mag ihren Vater in den Krebstod begleiten – Rosa verzagt niemals. Sie erzählt zahlreiche dieser Episoden als Farce, allen Klischees, erst Recht aller Familientraumata und Vermeidungsstrategien zum Trotze, und sie erzählt diese Geschichte einem fiktiven Gegenüber.
Denn die Hälfte ihrer Bezugspersonen ist irgendwohin verschwunden, nicht nur die Mutter, sondern zu Beginn ist auch Nadja ungreifbar, ihre Schwester. „Sie war jedenfalls nicht ein einziges Mal auch nur in der Nähe, wenn ich versuchte, Arzttermine zu organisieren oder für meinen Vater Obst kaufte (das er gar nicht wollte und dann trotzdem aß) oder die streng arische Physiognomie seines Onkologen bewunderte oder mit meinem Vater die Krankenhausabrechnungen kontrollierte, und erstaunlicherweise beschwerte er sich nie über das Verhalten seiner Erstgeborenen.“
Hypochondrische Woody-Allen-Figuren
Die „streng arische Physiognomie“ ist eine ironische Umkehrung arischer Rassenlehre, wie der ganze Roman mit Zuschreibungen und traumatischen, antijüdischen Ressentiments nachgerade spielerisch umgeht. Ein Onkel verunglückt tödlich, ausgerechnet in Fürstenfeldbruck, „in diesem traurigen Ort mit seinen S-Bahn-Gleisen, Naziflughäfen, Zwiebeltürmen und Neubauten“.
Nirgendwo wird erwähnt, dass an diesem traurigen Ort mit seinen „Naziflughäfen, Zwiebeltürmen und Neubauten“ das Olympia-Attentat 1972 sein blutiges Ende gefunden hat. Das Attentat und die Shoah, der **Israel-Palästina-Konflikt und der weiterhin lebendige Antisemitismus bilden den Hallraum, in dem „Nochmal von vorn“ erzählt wird – und dies keinesfalls larmoyant, sondern mit ironisch gewendeter Leichtigkeit. Rosa beschreibt die Haare ihrer deutschen Mutter als BDM-Zöpfe. Der Vater hat permanent Verstopfungen.
Die ganze Sippe ist eine Ansammlung hypochondrischer Woody-Allen-Figuren. Das väterliche Erbe beträgt magere 50 Euro – warum sollte auch jeder Jude begütert sein? Mit diesen Zuschreibungen vermeintlicher Identitäten, also Vorurteilen, hat Dana von Suffrin bereits 2019 in ihrem hochkomischen Romandebüt „Otto“ gespielt. Man kann sich nach Lektüre dieser Geschichte nur wünschen, dass der Wiederholungszwang bei ihr insofern weiterwirkt, dass dieses „Nochmal von vorn“-Prinzip zu vielen weiteren Romanen führt. Dana von Suffrin schickt sich an, das Erbe der großen jüdischen, US-amerikanischen Schriftstellerin Lily Brett anzutreten.
Dana von Suffrin: „Nochmal von vorne“, KiWi, Köln, 240 Seiten, 23 Euro