Eine arbeitslose Traueranzeigenspezialistin beobachtet heimlich Chirurgiepatienten, während ihre Mutter mit einem Raiffeisenbankdirektor fremdgeht. Autorin Isabella Straub fährt groß auf in ihrem Debüt: „Südbalkon“.
“Südbalkon“ ist der erste Roman der Wienerin Isabella Straub. Die 1968 geborene Autorin ist nach eigenen Angaben eine „Spätberufene“, hat bislang nur in (traditionell wenig gelesenen) Literaturzeitschriften und in verschiedenen Anthologien veröffentlicht. „Literarisch schreibe ich seit seit 2008“, sagt sie im Gespräch, „da hab ich die Leondinger Akademie für Literatur gemacht, das war so der Anfang. Und mit dem Roman hat es sogar überraschend schnell geklappt: Ich hatte den Text erst zu einem Drittel geschrieben und dennoch sagte gleich der erste Verlag zu.“ Zum Glück. Isabella Straubs sehr einfallsreicher Roman „Südbalkon“ eröffnet mit einer ausgiebigen Oralsexschilderung zwischen Heldin Ruth und ihrem Freund Raoul. Dieser beginnt mit den beiden geradezu liebevollen Sätzen: „Ich wärme meine Mundhöhle mit Tee vor. Hagebutte.“ Die Szene endet anderthalb Seiten später, als sich Ruth im Bad einen kräftigen Schluck Chlorhexamed genehmigt. „Es brennt auf der Zunge und im Gaumen. Ich spüle aus, öffne meinen Mund, um das Zahnfleisch zu betrachten.“
Ruth verwendet im Lauf der folgenden 250 Seiten eine Menge Zeit, um Ihren Körper zu studieren. Denn sie ist arbeitslos und „es ist ein Merkmal der Langzeitarbeitslosen, dass ihre Haut aktiver ist, als sie selbst.“ Andererseits sagt sie auch: „Ich bemühe mich nicht, mehr aus mit zu machen. Was vorhanden ist, muss reichen.“ Vorhanden ist: Ihre Neugierde; Ruth beobachtet ihre Nachbarn vom Balkon aus, sie beobachtet Chirurgiepatienten, hinter einem Denkmal versteckt, sie beobachtet den Arbeitsamtsmitarbeiter, der sie ins Leben „eingliedern“ will.
Sie spekuliert über Cafébesucher: „Mitte, Ende sechzig, sage ich. Prostataleiden im Anfangsstadium. Heißt Alexander. Nein. Berthold. Er hat so etwas Bertholdhaftes. Wie er an seiner Kamera schraubt, ganz ein Genauer. Die Tochter der beiden heißt Elisa oder Jana, irgendwas Modernes. Seine Frau muss Helga heißen. Andere Namen ausgeschlossen. Seit frühester Jugend leidet sie am Überraschungsei-Syndrom. Glaubt, das Leben hält noch einen handbemalten Märchenprinzen bereit. Aber nichts da. Nur fade Kleinkindschokolade, jeden Tag aufs Neue.“
Vorhanden ist ausserdem ihre Überzeugung, eine Beziehung, selbst die zu dem eher öden Raoul, bräuchte Sex und warmes Essen. Sie küssen sich zwar nicht mehr, während sie miteinander schlafen. Aber sie probieren es mit Rollenspielen: „Das siebte Flittchen bietet heute Rabatt für erfolgreiche Softwaredesigner – einverstanden?“ – Es ist relativ leicht, aus dem Alltag eines Kriminalkommissars, eines Polarforschers oder Rockmusikers eine spannende Geschichte zu bilden. Bei einer lethargischen Hartz-IV-Empfängerin, die am liebsten „auf der Nulllinie“ leben würde, ist das schon schwieriger. Ruths Leben ist deshalb vor allem in ihren Gedanken ereignisreich. Als frühere Texterin von Traueranzeigen (übrigens ein häufiger in der deutschen Literatur gewählter Beruf) kennt sie die finale Dramatik des Lebens aus naher Anschauung. Bis zum Tod, der jeden notwendigerweise ereilt, reicht es, Dates in Küchenstudios statt ins Café zu verlegen, Sätze sagen zu können wie: „Ein Raiffeisendirektor, der in meine Mutter verliebt ist, will mein Kinderzimmer beziehen.“ Wichtig bleibt, dabei niemals auf Existenzconsultants, Arbeitsamtsmanager oder Ratgeberbücher zu hören, selbst wenn sie geradezu euphorisch empfehlen, den „Tiger in Ihnen“ zu füttern. Ruth hat zu derlei Firlefanz eine ganz und gar nüchterne Einstellung. „Ich betrachte die Haut an meinen Armen, die Brust, die immer tiefer sinkt, den Ring um die Mitte. Wenn da ein Tiger wohnt, dann hat er sich gut versteckt.“ – Wie gesagt: „Was vorhanden ist, muss reichen.“ Verdammt gutes Debüt. Mehr davon!
Isabella Straub: „Südbalkon“, Blumenbar, 254 Seiten, 18,99 Euro