Der Papst in weißer Daunenjacke ist das bekannteste, komplett erfundene Bild der noch jungen „Deep Fake“-Dekade. Ist die Künstliche Intelligenz eine Gefahr – oder eine Chance, bei der unsere Erfahrungen mit Literatur helfen könnte, fragt die italienische Soziologin Elena Esposito.
Über eine der größten Sorgen, die derzeit in Bezug auf KI virulent ist, hat bereits Platon in seinem Phaidros-Dialog nachgedacht – dass einst mühsam entwickelte Fertigkeiten verlorengehen könnten. Selbstverständlich ahnte der griechische Philosoph nichts von neuronalen Netzwerken wie Chat GPT. Ihm ging es damals um die Schrift. Das Memorieren werde überflüssig, deutete er an und sollte Recht behalten.
Kaum jemand kann heutzutage die Werke Homers auswendig rezitieren – stattdessen bersten die Bibliotheken ob ihres angesammeltem Wissens. Schrift hat die Fähigkeiten unserer Gesellschaft am Ende nicht verkleinert, sondern wachsen lassen. Daran erinnert Elena Esposito, wenn sie die kommunikativen Folgen der neuesten digitalen Medienrevolution beobachtet.
„Platons Fehler bestand darin, die Auswirkungen der Schrift zu bewerten, indem er sich auf die menschliche Intelligenz (die die Fähigkeit zu memorieren verliert) und nicht auf die Kommunikation (die es ermöglicht, viel mehr zu erinnern) bezog.“
Fliegen statt Flügelschlagen
Auch jene Übersetzerinnen und Übersetzer, die gerade einen „Offenen Brief zur KI-Verordnung“ veröffentlichten, insistierten, dass Künstliche Intelligenz keine emotionale, moralische, soziale oder ästhetische Intelligenz besitze. Doch gerade in diesem vermeintlichen Mangel gegenüber menschlichem Vermögen sieht Esposito die Grundlage für den Erfolg dieses blutjungen, rein auf Statistik basierenden Mediums.
„In einem viel zitierten Beispiel sagte Hans Blumenberg, dass die Menschen zum Fliegen fähig wurden, als sie die Idee aufgaben, Maschinen zu bauen, die den Flug von Vögeln nachahmen und wie diese mit den Flügeln schlagen.“
Wir werden diese unverständlichen Maschinen niemals verstehen. Im Gegenzug können sie niemals intelligent werden. Nützlich ist KI dennoch. Sie kann Maschinen- Antworten auf menschliche Fragen geben und kuriose Bilder errechnen, wie die hochrealistisch anmutenden „Deep Fakes“ des Papstes in weißer Daunenjacke. Eine Gefahr?
„Hochgradig problematisch ist ein strategischer und systematischer Einsatz von Desinformation vor allem in kritischen Situationen wie dem Ukraine-Konflikt, in dem Videos von Putin und Selenskyj kursierten, in denen diese absolut falsche Aussagen über den Verlauf des Krieges oder die laufenden Verhandlungen machten.“
KI und Autofiktion
Noch sei das westliche System der Medienkontrolle „nicht darauf vorbereitet, die Verbreitung dieser Art von Nachrichten und die unkontrollierte Verfügbarkeit solch mächtiger Instrumente zu bewältigen“, schreibt Esposito. Doch könnten wir schon bald neue Skills zur Fakt-Fiktions-Unterscheidung entwickeln.
„Bereits im 18. Jahrhundert erzeugte die Verbreitung des Buchdrucks, aus dem auch die Zeitungen hervorgingen, eine völlig neue Art des Umgangs mit der Unterscheidung zwischen dem, was real ist, und dem, was nicht real ist: das bis dahin undenkbare Reich der Fiktion (fiction) durch den modernen Roman.“
Plötzlich – so Esposito – erzählte die Literatur von gewöhnlichen Menschen – ganz anders als Homers „Odyssee“. Sie näherte sich der Realität ihrer bürgerlichen Leserinnen und Leser derart an, dass befürchtet wurde, Fakt und Fiktion seien bald ununterscheidbar. Tatsächlich trat gegenteiliges ein. Unsere Gesellschaft lernte, durch Literatur die ihr entgegengesetzte Wirklichkeit anders wahrzunehmen, vielleicht sogar: mehr zu schätzen.
„Die Unterscheidung ist tatsächlich so scharf, dass sie auch Formen der Vermischung von Realem und Fiktionalem zulässt, die diese Differenz keineswegs verwischen, sondern sie ausnutzen und bestätigen. Man denke etwa an den jüngsten Trend zur Autofiktion, von Karl Ove Knausgård bis Rachel Cusk, der nicht funktionieren würde, wenn er nicht ein Publikum voraussetzen würde, das daran gewöhnt ist, die erzählten Ereignisse mit der Distanz der Fiktion zu lesen.“
Also: Obacht, doch keine Angst vor sprechenden, schreibenden, Bilder errechnenden Maschinen. Möglicherweise werden wir durch sie neue Fähigkeiten entwickeln. Unser literarisches Training kann dabei behilflich sein, neuronale Netzwerke wie ChatGPT als neue Kommunikationspartner anzunehmen. Diese neue Kommunikationssituation, in der Maschinen wie Menschen angesprochen werden, beobachtet Elena Espositos KI-Essay mit absichtlich irritierendem Blick. Entstanden ist ein optimistisches Plädoyer fürs Fliegen statt Flügelschlagen.
Elena Esposito: „Kommunikation mit unverständlichen Maschinen“, Residenz Verlag, Salzburg/Wien, 98 Seiten, 20 Euro