Mit seinem aktuellen Roman-Memoir „Sechs Koffer“ steht Maxim Biller auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Der schmale Band erzählt eine heiter-bittere Geschichte, die bis in die Jetzt-Zeit das Diaspora-Motiv durchspielt.
„Mit wem teilte ich, um mit Heinrich Böll zu sprechen, gemeinsam Erlebtes, Gesehenes und Gehörtes? Wer hatte in Deutschland die gleichen Erfahrungen wie ich?“ Das sagte der Maxim Biller vor wenigen Wochen bei seiner Poetikvorlesung in Göttingen. In diesem Sound spricht Biller, der bekannt wurde durch seine Tempo-Kolumne „100 Zeilen Hass“ seit eh und je. Deshalb verwunderte, in welcher Weise die von ihm ausgestellte Larmoyanz einen Widerhall fand vor allem in der konservativen Presse – als habe der 1970 im tschechischen Prag Geborene zum ersten Mal diese Rede angeschlagen. Überraschend war auch, dass Biller mit heiligem Ernst forderte, die deutsche Literatur müsste mehr gute Literatur aus Täterperspektive hervorbringen. Damit positionierte sich Biller krawallartig gegen die kurz zuvor stattgefundenen Vorlesungen seines Verlags-Kollegen Christian Kracht, der in Frankfurt berichtet hatte von einem Missbrauch in Jugendjahren.
Der Schweizer hatte eben diesen Missbrauch als Movens des eigenen Schaffens inszeniert. Kracht schilderte, wie ihm die eigene Familie als fremder Ort erschienen war. Biller dagegen erzählte in seiner Vorlesung von Kollektivierungstraumata und seiner jüdischen Identität als Ausgangsmoment des Schreibens. Da standen sie sich gegenüber, zwei Solitäre, einer vom Standpunkt des radikal Subjektiven agierend, der andere aus einem ebenso radikal kollektiven Bewusstsein sprechend. Mit dem neuen Buch „Sechs Koffer“ führt Biller die biographischen und kollektiven Fäden nun auf schmalen 200 Seiten zusammen.
Am Anfang dieser Geschichte steht das Wort, genauer die Suche nach dem richtigen Wort. Ein Goj muss sein, wer hier nicht an das 1. Buch Mose denkt, das in der Tora auf den schönen Titel „Bereschit“ hört und beginnt mit dem großen Satz: „Am Anfang war das Wort.“ Bei Biller, dem großen Ironiker, klingt die Umformulierung so: „An einem heißen, viel zu heißen Tag im Mai 1965 stand mein Vater noch früher auf als sonst. Er hatte bis nachts um vier gearbeitet – Schwejk, jetzt schon der letzte Teil, der ihm nicht mehr so gut gefiel wie die ersten drei –, dann hatte er zwei Acylpyrin genommen und sich mit schrecklichen Kopfschmerzen auf die schöne neue West-Couch im Arbeitszimmer gelegt, um uns drei im anderen Zimmer nicht zu wecken. Als er zwei Stunden später aufwachte, dachte er, er hätte nur für ein paar Sekunden die Augen zugemacht. Das Licht draußen war anders als sonst, gelb, fast orange. Es hatte für ein paar Minuten kurz und heftig geregnet, aber der Himmel wurde trotzdem nicht dunkel, und hinterher leuchtete die sonderbare Morgensonne fast rot ins Zimmer hinein und überzog den Schreibtisch und die Schreibmaschine, die Manuskriptblätter und die beiden aufgeschlagenen Bände seines tschechisch-russischen Wörterbuchs mit einem zarten, blutigen Schimmer.“
Da versucht sich Billers Vater an der Übersetzung eines Schelmenromans, dessen Held, der brave Soldat Schwejk, vielfach Trost war für die junge Tschechoslowakei. Doch die Übersetzung scheitert, womit „Sechs Koffer“ ein vielfach schillerndes Leitmotiv bedient, das die auf heiter-bittere Weise bis in die Gegenwart ragende Geschichte prägt: das jüdische Exil, die Diaspora. Die daheim russisch sprechende Familie Biller will Mitte der 1960er Jahre aus dem kommunistischen Tschechien fliehen, man könnte auch sagen: Ebenso wie Schwejk, der nicht ins Russische übersetzt werden kann, lässt sich diese Familie nicht integrieren in die sowjetische Raison.
Der Begriff, an dem Billers Vaters bei der Übertragung scheitert ist jener des „fauligen Geruchs“. Und etwas ist faul, durchaus in Anlehnung an Shakespeares „Hamlet“, seit Onkel Dima bei der versuchten Republikflucht festgenommen wurde: „Als Dima im Sommer 1960 am Flughafen in Ruzyně verhaftet wurde, fanden die StB-Leute sieben Hundert-Dollar-Scheine bei ihm, die er in zwei leeren Orwo-Filmdosen versteckt hatte. Das wusste mein Vater von Natalia, und die wusste es von Dima, den sie in den letzten fünf Jahren fast jede Woche besucht hatte, so oft wie niemand sonst. Jedenfalls hatte mein Vater immer gedacht, dass Dima ihr die Geschichte mit den Dollars bei einer ihrer vielen kurzen, traurigen Begegnungen in dem grell erleuchteten, immer zu kalten Besucherraum in Pankrác erzählt haben musste. Dann legte sie aber gestern Abend im Café Slavia nach dem vierten oder fünften Cognac die Hand auf seine Hand und sagte: ‘Die verdammten Dollars eures Vaters! Ich hab nie verstanden, warum er sie jahrelang aus Moskau nach Prag zu euch rausschmuggeln durfte, warum der StB nie etwas dagegen gemacht hat. Ohne seine Dollars hätten sie Dima vielleicht gar nicht einsperren können.’ Mein Vater nahm die Flasche, schenkte ihr und sich noch mal ein und sagte: ‘Woher weißt du, Natalia, dass der StB jahrelang davon wusste?’ Sie sah ihn erschrocken an – sehr erschrocken – und sagte unsicher: ‚Die wissen doch alles, oder nicht?’“
Jemand musste Dima, tatsächlich der Großvater Billers, verleumdet haben; so viel Anlehnung an den wie Maxim Biller aus Prag stammenden Franz Kafka sei gestattet. Doch wer hat aus welchen Gründen denunziert? Der Verrat ist fortan ein Familiengeheimnis. Ebenso wie zuvor Mutter Rada als auch Schwester Elena Lappin versucht Maxim Biller die Folgen dieses Geheimnisses literarisch zu bearbeiten. Vor diesem Hintergrund bekommen die beiden Sätze aus der Göttinger Poetikvorlesung eine neue, eben nicht nur das Jüdische meinende Bedeutung: „Mit wem teilte ich gemeinsam Erlebtes, Gesehenes und Gehörtes? Wer hatte in Deutschland die gleichen Erfahrungen wie ich?“ Wichtig ist, wie mit diesen Erfahrungen umgegangen werden soll. So ist die Mutter in „Sechs Koffer“ eher fatalistischer Natur: „Alle haben eine Last zu tragen, dachte sie nun, in ihrem Bett in der Laubova, aber man musste es ja nicht übertreiben und es sich selbst noch schwerer machen. Dann klappte sie Kusmins Tagebuch zu, inzwischen schon ganz müde und durcheinander von ihren Tabletten, und machte die kleine rote Nachttischlampe aus.“
Das Ausschalten der roten Nachttischlampe hilft gegen die Last natürlich ebenso wenig wie die Flucht aus jenem roten Reich, das man als seine Identität weiterhin in sich trägt. Gegen die Last hilft die wiederkehrende Konfrontation, oder mit den als Authentizitätsaffekt geschriebenen Worten im Buch: „Immer, wenn ich heute nach Zürich komme, gehe ich mindestens einmal in die Kronenhalle und bestelle mir das Gleiche, was ich damals an meinem fünfzehnten Geburtstag mit Dima gegessen hatte – Rinderbouillon, Zürcher Geschnetzeltes, Tomatensalat mit dünn geschnittenen, fast durchsichtigen Zwiebeln, Mousse au chocolat.“
Das Zürcher Geschnetzeltes und der Verrat an Onkel Dima bleiben stets Teil von Biller. Das Vorgegebene literarisiert der Autor mit seinen als Kippfiguren-Ensemble angelegtem Personal aus jüdischen Tanten, die mal narzisstisch-kalt, dann in ihren eigenen Aufzeichnungen herzenswarm erscheinen, mit den fliehenden, spitzelnden, mal standhaften, dann kurz darauf panisch ich-bezogenen Onkeln, mit den Erinnerungen an die eigene, von Biller begehrten Cousine, wo erotische Erinnerung plötzlich umbricht in spätere Antisemitismuserfahrungen. Alles ist zweimal vorhanden, zugleich schwarz und weiß.
Über all dem steht unausgesprochen die schöne Formulierung der „biographischen Illusion“ von Pierre Bourdieu. Jede Erzählung unseres Lebens ist ein Konstrukt. – Dass es „Sechs Koffer“ auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat überrascht; zu sehr liest sich das Buch wie das Treatment einer eigentlich noch auszuformulierenden Geschichte. Zugleich überrascht die Shortlist-Nominierung keineswegs. Selbst die Nominierung hat etwas Dialektisches. In den vergangenen Jahren ist hierzulande das „Memoir“-Genre in die Bestsellerlisten gelangt, die stets subjektiven Krisenerzählungen wie „Panikherz“ von Benjamin von Stuckrad-Barre oder „9 Tage wach“ von Eric Stehfest. Das gebrochene Ich interessiert in unserer Zeit auf herausgehobene Weise; und Billers Stenogrammstil muss eben kein Mangel sein. Man kann diesem Stil ebenso einen Willen, eine bewusste Lakonie unterstellen. Das Besondere und damit Bemerkenswerte dieses autofiktionalen Kurzromans ist, dass er das Fremde auf eine Weise erzählt, als berichte jemand über Allbekanntes. Mit uns teilt Biller, jenes Erlebte, Gesehene und Gehörte, über das er bei seiner Poetikvorlesung nachdachte. Es ist durchaus angemessen, wenn man dieser Geste für einen Moment seine Aufmerksamkeit schenkt.