Die Naturwissenschaften erklären, dass wir allein im Universum sind. Unser Transzendenzbedürfnis stillen sie damit nicht. Dieses Dilemma treibt auch die Figuren in Hartmut Langes neuem Novellenband um.
Unser Bewusstsein ist Segen und Fluch zugleich. Nach christlicher Vorstellung konnten die ersten Menschen, Adam und Eva, vom Baum der Erkenntnis essen – wurden aber infolgedessen aus dem Paradies vertrieben. Oder weltlich gesprochen: Unser Bewusstsein hat Literatur, Musik, Gemälde geschaffen, das Penicillin entdeckt, die Elektrizität gebannt, die Kindersterblichkeit gesenkt und mit der Aufklärung den Menschen an die Stelle Gottes gesetzt.
Wir haben aber auch die Guillotine entwickelt, das Giftgas, die Atombombe und sind im 20. Jahrhundert fürchterlichen Ersatzreligionen gefolgt, beispielsweise dem Faschismus, dem Stalinismus und dem Nationalsozialismus. Man kann also sagen, dass wir nachwievor vom Baum der Erkenntnis essen, doch im Gegenzug immer weiter aus dem Paradies vertrieben werden. Dieser Gedanke beschäftigt den Berliner Schriftsteller Hartmut Lange seit vielen Jahrzehnten – und sein Werk leidet offensichtlich an der Abwesenheit Gottes in unserer westlichen Welt.
„Gott ist als heraufbeschworenes Abstraktum beides zugleich: Abgrund des Unerkennbaren und Flügel des Trostes, um darüber hinweg zu kommen. Und erst, wenn wir dies akzeptieren, werden wir fähig, ein derart vages, aber lebenswichtiges Phänomen wie den Glauben an Gott ernstzunehmen und ihn der Arroganz und Vormundschaft des Intellekts zu entziehen.“
Nöte auf den Begriff gebracht
Das schreibt Hartmut Lange in einem Text, der seinen neuen Novellenband „Am Osloer Fjord oder der Fremde“ beschließt. Die hier komprimierten Überlegungen fassen noch einmal seine Poetik und Philosophie zusammen. Man könnte auch sagen, seinen bemerkenswerten intellektuellen Lebensweg. Texte wie „Die Waldsteinsonate“, „Schnitzlers Würgeengel“ oder „Die Bildungsreise“ gehören zum Kanon der Gegenwartsliteratur. Seine Novelle „Das Haus in der Dorotheenstraße“ ist Schullektüre. Außerhalb der Schule hingegen wird er zwar bewundert, doch wenig gelesen. Als „anerkannt, unbekannt“ bezeichnete ihn „Die Zeit“ einmal.
Und so ist es geblieben, obwohl oder vielleicht auch weil seine Novellen die transzendenten Nöte des Menschen auf den Begriff bringen. „In der Bleibtreustraße“ heißt eine von insgesamt neun Novellen der gerade bei Diogenes erschienenen Sammlung. Sie steht beispielhaft für Langes Poetik der Irritation und hat mehr mit Gott zu tun, als man vorderhand vermuten würde. Vorgestellt wird Detlev von Rosen, ein bekannter Schriftsteller, der scheinbar abgesichert ist und nun in die titelgebende Straße zieht, wo es auch bei geöffnetem Fenster erholsam ruhig ist.
„’Wie gut, dass ich hierhergezogen bin’, dachte er. Es war immer sein Wunsch gewesen, in dieser Idylle, in der es überall kleine Restaurants, Antiquitäten- und Secondhandläden gab, heimisch zu sein. Die Straßen waren nicht asphaltiert, sondern mit Pflastersteinen belegt, und vor allem der museal wirkende Klinkerbau, in dem ein Hotel mit dem romantischen Namen MOND untergebracht war, gab ihm ein Gefühl von Zeitlosigkeit.“
Eine veritable Schreibkrise
Die vermeintliche Idylle bekommt einen Riss, das gesamte Lebenskonstrukt Detlev von Rosens wankt, als er kurz nach seinem 50. Geburtstag von einer Schreibkrise heimgesucht wird. „Statt zu arbeiten, war er immer öfter damit beschäftigt, die gegenüberliegende Fassade zu betrachten, wo hinter den Scheiben im zweiten Stock, so kam es ihm jedenfalls vor, den ganzen Tag über das Licht brannte, und eines Abends fiel ihm auf, dass da eine ununterbrochene Bewegung war, ein aufgeregtes Hin und Her, und offenbar waren es ein Mann und eine Frau, die heftig gegeneinander gestikulierten.“
Dieser Vorgang irritiert den Schriftsteller. Wie viele andere Figuren von Hartmut Lange, verdrängt er zunächst, dass etwas Merkwürdiges in sein Leben getreten ist. Er meidet den Blick auf die gegenüberliegende Fassade, bevor er doch wieder ans Fenster tritt und nun besagte Frau beobachtet. Dieses Mal ist sie allein. Sie tritt ihrerseits ans Fenster, und von Rosen hat den Eindruck, sie sähe direkt zu ihm.
„’Was will sie von mir?’, dachte er, zog seinen Mantel an, verließ die Wohnung, überquerte die Straße und ging zum Eingang des gegenüberliegenden Hauses. Er drückte auf den untersten Klingelknopf, und wer ihm öffnete, war jemand, der dabei war, das Treppenhaus zu putzen. ‚Können Sie mir sagen, wer die Wohnung im zweiten Stock gemietet hat?’, fragte er. ‚Die ist, soviel ich weiß, seit längerem leer’, bekam er zur Antwort. Dann war die Tür wieder geschlossen, und Detlev von Rosen fand es absurd, dass er auf die Idee gekommen war, nur weil ihn ein erleuchtetes Fenster irritierte, auf einen fremden Klingelknopf zu drücken.“
Gott ist unerklärlich
Nun, ganz so absurd ist es nicht, dass der Mann versucht, hinter die Fassade zu blicken. Wir befinden uns nicht nur in der Berliner Bleibtreustraße, sondern auch in einer literarischen Parabel, die zeigt, wie Menschen auf das Kontingente an sich reagieren; zunächst mit Ignoranz, dann mit wissenschaftlicher Empirie. Ergebnislos. Obwohl er selbst über die Straße gegangen ist und nachgesehen hat, steht der irritierende Sachverhalt umso rätselhafter vor Detlev von Rosen. Die Wissenschaft, so kann man sagen, kommt beim Unerklärlichen – und Gott ist unerklärlich – an ihre Grenzen. Der poetologische Text am Ende des Bandes fasst dieses Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Transzendenz philosophisch zusammen.
„Aber auch die Naturwissenschaft, die ausschließlich das Reale gelten lässt und die dem Irrealen, also der Vorstellungswelt, die Attribute des Erkennbaren verweigert, endet in der Absurdität. Oder wie soll man den Ehrgeiz verstehen, für die eigene Nichtigkeit immer neue und immer unwiderlegbarere Beweise herbeizwingen zu wollen.“
Was machen Menschen, wenn sie einen Sachverhalt weder ignorieren, noch erklären können? Sie bemühen ihre Vorstellungskraft. Vielleicht glauben sich an einen Gott, der alles Unerklärliche doch irgendwie begründet – oder sie wenden sich der tröstenden Kunst zu.
Ein Fragment
Als Selbstheiler hat Sigmund Freud den Künstler bezeichnet, ist er doch in der Lage, seine persönlichen Nöte psychoanalytisch zu bearbeiten mithilfe der Literatur, der Musik, der Malerei. Das versucht auch Detlev von Rosen, der sich, ausgehend von der imaginierten Frau in der gegenüberliegenden Wohnung, an seine Exfreundin Claudia erinnert. Kann es sein, dass sie die Fremde auf der anderen Seite ist? Der Schriftsteller schließt die Vorhänge und denkt darüber nach, ob er die einst im Streit beendete Beziehung literarisch verwandeln kann.
Einen ersten Schreibversuch hat er vor längerer Zeit unternommen. Damals saß er an einer Spruchsammlung. Als informierter Leser Hartmut Langes denkt man sofort an die „Pensées“ des französischen Philosoph Blaise Pascal, der eine immanente Wirkung auf die Literatur des Berliner Schriftstellers hat. Doch wie so viele Manuskripte, die in seinen Novellen seit der ersten, seit „Die Selbstverbrennung“ von 1982 auftauchen, bleibt auch die hier begonnene Schrift des Detlev von Rosens ein Fragment.
„’Solange ich nicht weiß, ob das, was ich dort drüben sehe, der Wirklichkeit geschuldet ist, kann ich nichts darüber schreiben’ dachte er, und wieder sah er hinter dem Fenster auf der anderen Straßenseite eine ununterbrochene Bewegung, wieder sah er jenen Mann und jene Frau, die heftig gegeneinander gestikulierten. Er sah, wie der Mann versuchte, die Frau am Ärmel ihrer Bluse festzuhalten. Sie riss sich los, und für einen Moment dachte von Rosen, dass er es selbst sein könnte, den er im Blick hatte.“
Ungelöste Fragen im Herzen
Detlev von Rosen überlegt, ob er sich für einige Zeit aus dem Blickfeld bringen und im Hotel „Mond“ ein Zimmer nehmen soll. Zu sehr beunruhigen ihn die gegenüberliegende Fassade und das, was er glaubt, eben da zu erkennen. Insgeheim weiß er, dass seine Bilder bloß Schimären sind und wird so zum Wiedergänger all jener, die an ihrem Glauben zweifeln, weil sie erkannt haben, dass ihr tröstlicher Gott nur eine Einbildung ist. Am Ende der Novelle gibt sich der Schriftsteller mit den ungelösten Fragen in seinem Herzen ab, und damit, dass Claudia lediglich als Vorstellung in seinem Leben existiert.
„’Ich sollte aufhören zu überlegen, ob sie dort drüben wohnt oder nicht. Solange ich es schaffe, mir ihre Gegenwart einzubilden, könnte ich mit meinem Alleinsein zurechtkommen, und vielleicht gelingt es mir eines Tages, etwas darüber zu schreiben’, dachte von Rosen und rückte, ja was sollte er anderes tun, sein Notebook zurecht.“
Gott liebt es, sich zu verstecken. Er ist ein Mysterium, an das man schlechterdings nur glauben kann – oder eben nicht. Der Schriftsteller Detlev von Rosen gibt sich seinem Glauben hin, er hört auf, zu überlegen, ob die von ihm ersehnte Frau tatsächlich existiert. In seiner Angst vor der Einsamkeit akzeptiert er eine tröstliche Vorstellung.
Ein mondbeschienenes Abendlied
Die Angst Detlev von Rosens kennt jeder Mensch, auch Zustände der Erschöpfung, des Ennuis, der Sehnsucht. Und bereits durch diese kleine, sehr zurückgenommen erzählte Geschichte Hartmut Langes erfahren wir, mit welchen Strategien moderne Menschen ihr Hineingehaltensein ins Nichts kompensieren. „Die einen versuchen den Mond mit allen Konsequenzen wissenschaftlich zu erfassen, die anderen suchen sich, wie zum Beispiel Matthias Claudius, ihren eigenen Mond.“
Das schreibt Hartmut Lange im letzten Text seines Bandes und bringt die ersten Zeilen des berühmt gewordenen Abendlieds: „Der Mond ist aufgegangen / Die goldnen Sternlein prangen / Am Himmel hell und klar. / Der Wald steht schwarz und schweiget, / Und aus den Wiesen steiget / Der weiße Nebel wunderbar.“ Der Mond ist Sinnbild des Ersehnten, in der Novelle wie bei Claudius – weshalb Claudia als Name der vermissten Ex-Freundin keinesfalls zufällig gewählt ist. Der Mond ist ein mythisches Bild, das über die Zeiten hinweg Bestand hat. Das hat am treffendsten Franz Fühmann erkannt, Schriftsteller der DDR wie Hartmut Lange, als er 1975 in seinem Essay „Das mythische Element in der Literatur“ anmerkte:
„‚Mond’ – ‚aufgehen’ – ‚golden’ – ‚Sterne’ – ‚Himmel’ – ‚Wald’ … Ein jedes dieser Wörter ist ganz alltäglich, und jedes kann gänzlich Geläufiges sagen, doch in jedem Wort lebt auch das Uralte, und das Geheimnis des lebendigen Feuers und Wasser, das Geheimnis von Wolke und Sternnacht und Weidenbaum wirkt in den Sprachen wie in den Gründen der Seele fort.“
Wir versagen uns die Sinnangebote
Auch Hartmut Lange legt seine Alltagsgeschichten als Mythen an. Allen Novellen seines Bandes „Am Osloer Fjord oder der Fremde“ wirken überzeitlich. Sie spielen in der Gegenwart und suchen doch, ganz im Sinne Hans Blumenbergs, neue Antworten auf immer gleich Fragen, die sich die Menschheit seit jeher stellt. An einem Tag wie Allerheiligen darf daher umso deutlicher untersucht werden, wie wir Menschen die Nichtigkeit unserer eigenen Existenz dennoch ertragen.
Wir suchen Sinn und versagen uns gleichzeitig, als Menschen der Aufklärung, das christliche Sinnangebot. Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen: Hartmut Lange ist Atheist, er war nie ein christlicher Schriftsteller. Aber er fragt, welche Konsequenz ein Leben ohne Gott in unserer Zeit hat, im tiefen Bewusstsein von dem, was offensichtlich fehlt. Aber er hat seine Ersatzreligion gefunden: die Kunst.
„Die Religion hat es schwerer als die Kunst. Sie ist ein Schwebezustand schon deshalb, weil sie ihren Wahrheitsgrund weder aus der Anschaulichkeit noch aus der Erkenntnis, sondern aus der Mythologie herbeizwingen muss. Die Kunst aber ist, was die Deutung unserer Existenz angeht, ganz und gar unparteiisch, und es muss ihr, wo sie dem Humanen verpflichtet bleibt, erlaubt sein, das eigene Befinden ohne konfessionelle Gebundenheit in Rechnung zu stellen.“
Am Osloer Fjord
Schreibt Hartmut Lange am Ende seines neuen Novellenbandes “Am Osloer Fjord oder der Fremde”. Dessen Titel ist selbstverständlich eine Anspielung auf Albert Camus’ existentialistischen Roman von 1942, ebenso auf Arthur Schnitzlers Erzählung „Die Fremde“ ist, in der ein Mann in der Hochzeitsnacht von seiner Ehefrau verlassen wird und sich daraufhin erschießt. Er findet eben keinen Trost in der Vorstellungswelt – anders als Detlev von Rosen. Dem betrogenen Gatten in Arthur Schnitzlers „Die Fremde“ ist die Flucht in eine tröstende Vorstellungswelt versagt.
Sinnlos erscheint ihm die eigene Existenz – und hier trifft sich Schnitzler mit Camus’ „Der Fremde“. Dieser Roman inspirierte nicht nur den Titel, sondern auch den Handlungsort von Langes Eröffnungsnovelle. Bei Camus wird der introvertierte Meursault verhaftet, nachdem er am Strand einen Araber erschossen hat. Auch in Langes Geschichte besucht der Ich-Erzähler einen Strand, doch nicht im sonnigen Algerien, sondern viel weiter nördlich, am Osloer Fjord.
“Hier war alles karg, irgendwie unbewohnt, und wenn das Wetter wechselte, wirkte der Himmel nicht frei, sondern er schob sich als schnurgerade Wolkenwand wenige Meter, so schien es mir, über die Erde wie ein Vorhang, den man zu Dreivierteln geschlossen hatte. Auf der Insel, auf der ich mich befand und von der aus man Oslo unmittelbar im Rücken hatte, begann die Dämmerung, die rasch fortschritt, und doch war ich in der Lage, wenn auch nur schemenhaft, den Umriss einer Person zu erkennen.“
Poetische Form des Untergangs
Wieder eine Erscheinung, die nicht exakt ist, sondern lediglich schemenhaft. Der Ich-Erzähler und der Fremde kommen an verschiedenen Tagen ins Gespräch. Deutlich wird, dass jener, der sich stets im Rücken des Erzählers nähert, ein Henkersknecht aus der Zeit der französischen Revolution ist. Er steht beispielhaft für die Willkür, mit der Menschen seit jeher ihre eigenen Brüder ermorden. Einer, der freimütig bekennt, er hätte Spaß am Töten gehabt. Schließlich waren zahlreiche Zuschauer anwesend, als er sein schreckliches Werk vollrichtete. „Kennen Sie die Guillotine? Zugegeben, sie ist ineffektiv und altmodisch, aber immer noch eine poetische Form, dem Untergang Geltung zu verschaffen.“
Da ist erneut die anfängliche Denkfigur des verhängnisvollen Bewusstseins, das sowohl die Guillotine als auch Puccinis Oper „La Bohème“ hervorgebracht hat. Die keinesfalls zufällig in der anschließenden Geschichte genannt wird. Erneut taucht ein Fremder auf. Er sitzt während der Vorstellung im Publikum, steht nicht auf, als sich alle im Saal applaudierend erheben. Er blättert im Programmheft und scheint sich zu ärgern. Jedenfalls hinterlässt ein Unbekannter einen kleinen Brief für Lisa Svensson, die in der vorgestellten Inszenierung die Mimì spielt – und für sie gibt es keinen Zweifel, dass die Nachricht vom besagten Fremden verfasst wurde. „’Erstaunlich, wie Sie es schaffen, derart kunstvoll auf der Bühne zu sterben, um sich wenig später vom Publikum bejubeln zu lassen’, stand da in Druckbuchstaben.“
Das Sterben der Mimì
Ob der Brief tatsächlich abgegeben wurde, ist in Langes Novelle unklar. Ebenso gut kann sich die Schauspielerin, sie heißt Lisa Svensson, eingebildet haben, dass Ihr vorgeworfen wird, eine Figur so leichthin sterben zu lassen, bevor sie selbst aufsteht und sich wie selbstverständlich bejubeln lässt. Die eingebildete Ex-Freundin des Schriftstellers Detlev von Rosen war ein Trost. Der eingebildete Vorwurf in Langes Novelle „Lisa Svensson oder das Sterben der Mimi“ führt zur Krise. Der Schauspielerin ist es nicht mehr möglich, freiheraus zu spielen. Sie möchte sich keinesfalls für ihre Darbietung beklatschen lassen. Ihr Kollege ist in Sorge. „Er ahnte, wie schwierig es sein würde, sich einer Einbildung, auch wenn sie keine Gründe geltend machen konnte, zu entziehen, und er rechnete damit, dass Puccinis Oper ‚La Bohème’ verschoben oder umbesetzt werden würde, falls die Svensson darauf bestand, sich vor einem Publikum, das das Sterben beklatschte, nicht mehr zu verbeugen.“
Natürlich, auch diese Geschichte fragt nach den realen Konsequenzen der Vorstellungswelt, auch „Lisa Svensson und das Sterben der Mimi“ ist religiös konnotiert. So wie die übrigen Texte des Bandes. Reihenweise hadern die Figuren mit dem Unerklärlichen, mit dem Nicht zu Fassenden. Die Trinkerin aus Edgar Degas’ Gemälde „Der Absinth“ wird von einem Museumsbesucher getröstet: „Mademoiselle … auch wenn es Ihnen nicht gefällt, in endgültiger Traurigkeit mit einem Glas Absinth vor den Augen in aller Ewigkeit dazusitzen, glauben Sie mir, man hat Sie von der Sterblichkeit befreit, und etwas Besseres kann man sich nicht wünschen.“
Zweitausend Jahre im Blick
Doch die Trinkerin beschwert sich, dass sie für immer als Alkoholikerin gelten wird. In einer anderen Novelle scheint es wiederum, als wehrte sich eine Winterlinde gegen ihre geplante Abholzung. Jedenfalls hat ein Spaziergänger die Hoffnung, die Linde möge sich aus eigener Kraft vorm sicheren Untergang retten. Dieser ist bereits durch einen roten Punkt gekennzeichnet ist, mit einem Stigma, das den Forstarbeitern anzeigt, dass dieser Baum gefällt werden muss. In der Vorstellungswelt hat die Winterlinde eine Chance, hier ist alles möglich. Das wird sie allerdings nicht vorm sicheren Untergang in der Realität retten.
„Wer die Kulturgeschichte der letzten zweitausend Jahre im Blick hat, der kann nur staunen, wie auf der Enge eines Trabanten eine erfundene, der Poesie, dem Glanz des schönen Scheins verpflichtete Welt entsteht. Er wird auch Zeuge, wie der Mensch das Universum auf transzendente Weise übersteigt.“ Schreibt Hartmut Lange zum Abschluss seines neuen Novellenbandes „Am Osloer Fjord oder der Fremde“ – passend zu Allerheiligen, jenem Feiertag, an dem nach katholischer Sitte längst verstorbener Menschen gedacht und so deren Auslöschung für einen Augenblick widerrufen wird.
Wie bei jener Absinthtrinkerin, die Edgar Degas 1876 für die Ewigkeit festgehalten hat. Oder so, wie der Schriftsteller Detlev von Rosen in Langes Novelle die längst abwesende Ex-Freundin über eine Selbsttäuschung zurück in sein Leben holt – oder die Mimí in Puccinis Oper „La Bohème“ jeden Abend sterben, doch kurz danach wieder aufstehen darf. Die oft nur vermutete Verwandtschaft von Religion, Selbsttäuschung und Kunst wird bei Hartmut Lange anschaulich. Wer den Band genau liest, wie eine Meditation oder ein Gedicht, der wird erkennen, dass dieser Reigen über sich stetig durchziehende Motive und Metaphern zusammengehalten und so der Eindruck erweckt wird, dass es entgegen aller Widrigkeiten etwas Ganzes und Tröstliches geben kann. Auch wenn dieses Tröstliche lediglich eingebildet ist.
Hartmut Lange: „Am Osloer Fjord oder der Fremde“, Diogenes, Zürich, 112 Seiten, 22 Euro