Neukölln jetzt: Leute wie der untherapierbare Psychiater, eine Handvoll illegaler Afrikaner und die schwer überforderte Dominamama bevölkern das BerlinerSetting im verstörendsten Roman der Saison.
„Sie hatte sich hier sicher gefühlt. Gut versteckt zwischen Gemüsehändlern, Wettbüros, Dönerimbissen, 99-Cent-Läden, Lidl-Märkten und Kneipen, in deren Schaufenstern Silverstergirlanden bleichten.“ So wie Pädagogikstudentin Ebba geht es allen Figuren in Inger-Maria Mahlkes großartigem Roman „Rechnung offen“. Vom Wohlfühlterrain zur schiefen Ebene, so kann man den Weg dieser Bewohner Neuköllns beschreiben. Dabei unterscheidet sich der im Roman geschilderte Stadtteil Berlins von der Terrortopographie, die seit dem Rütli-Schulskandal in verschiedenen Medien transportiert wird. – Neukölln steht üblicherweise für kriminelle Gangs, Hartz IV-Verwahllosung, Islamisierung, Ghettoisierung, fürGangstarap von Massiv und den dazu gehörendenRhymes: „Wer will Krieg, komm, Blut gegen Blut, komm, Messer aus der Tasche, Schlägerei bis das Blut kommt!“ An diese Schlagworte dockt Inger-Maria Mahlke feinsinniger an. Oder anders gesagt: Ihre Figuren sind keine aktiven Täter, sondern passive Opfer ihres Umfeldes. Da ist erstmal der kaufsüchtige Psychiater Claas, Besitzer des Neuköllner Hauses, in dem die meisten „Offene Rechnung“-Leute ihr Leben abwohnen. Claas hat sich nach exzessivemEbay-Konsum so hoch verschuldet, dass irgendwann der Gerichtsvollzieher vor der Wohnung steht. Seine Frau Theresa will nicht mehr bei ihm sein. Tochter Ebba kauft Gras, um sich zu betäuben.
Aber wegziehen, rausschmeissen, betäuben hilft nicht. Das muss auch der kleine Luca erkennen, dessen Mutter als Teilzeitdomina arbeitet, den Job im Backshop geschmissen hat, irgendwann ganz abhaut. Jahrelang hat Lucas seine Spielsachen sortiert, Reihe in Reihe aufgestellt, wenigstens dem Teil seines Lebens Struktur verliehen, den er beherrschen kann. Doch jetzt lebt er von einem auf den anderen Tag allein. Man kann die Augen vorm Elend verschliessen, sich in eine Schattenwelt flüchten wie die demente Rentnerin, die sich in eine pardoxerweise gesicherte Weltkriegszeit zurückphantasiert. Solche Strategien verfangen in diesem Roman: überhaupt nicht. Da sind diese illegalen Afrikaner, die keinen Arzt rufen können, weil sie dann abgeschoben werden. Lucas darf sich nicht an irgendein Amt wenden, sonst käme er ins Heim. Der überschuldete Claas bekommt nach seinem Rauswurf kein Hotelzimmer, weil er pleite ist. Da alle eine „Rechnung offen“ haben, ist ihnen das gesellschaftliche Leben verschlossen. Inger-Maria Mahlke kommt ihren Figuren dabei schmerzhaft nahe. Die ganze Zeit hat man das Gefühl, in den intimsten Lebensbereich dieser Menschen einzudringen. Da öffnet Claas die Kühlschranktür und seine Frau hat mit Gaffatape einen Zettel ans obere Fach geklebt:; „Wage ja nicht, was zu nehmen.“ Lucas‘ Schulkamerad schnüffelt irgendwann und sagt; „Du stinkst.“
Ständig sitzt irgendwer auf dem Klo, bei seinen allerprivatesten Verrichtungen. Nach einer Abreibung wünscht sich die verletzte junge Frau, man möge ihr Babygläschen bringen: „Nudeln Bolognese oder Kalb mit Gemüse, irgendwas in die Richtung.“ – Da einem diese Menschen lieb sind, will man sie nicht derart schutzlos sehen. Da sitzt Theresa im Restaurant und muss daran denken, dass sie an diesem Tisch Hochzeitstage, Geburtstage, ihre Habilitation, Ebbas Freischwimmer, Ebbas Abitur gefeiert haben. Jetzt sitzt sie dort allein, ohne Geld, ohne Mann, ohne Hoffnung – und versucht, Haltung zu bewahren. Das ist für einen Augenblick ein Bild aus der Distanz heraus, ohne Tränen, Verzweiflung, Nacktheit, Angst. Sie ist in einer Rolle, so wie viele Menschen, denen wir tagtäglich begegnen, die wir nicht zu nah an uns heranlassen wollen. Aber diese Menschen besitzen nicht nur diese Rolle, diese antrainierte Haltung – sondern auch Schmerz. Der Philosoph Søren Kierkegaard schrieb einmal, der Mensch sei groß „weil er elendig ist“. Selten wurde dieser Satz so eindringlich bewiesen, wie in „Rechnung offen“ von Inger-Maria Mahlke.
Inger-Maria Mahlke: „Rechnung offen“, Berlin Verlag, 288 Seiten, 19,99 Euro