Drogen, Bulimie, Karriereende: Der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre hat ein Buch über die dunklen Abschnitte seines Lebens geschrieben – und über seinen Retter Udo Lindenberg. Eine Bekenntnisschrift, die versucht, Verdrängtes und Unerzählbares in Form und Sprache zu bringen.
„Ich wusste immer, dass ich über diese Zeit der Drogenabhängigkeit und Essstörungen und diese Klinikaufenthalte etwas schreiben will, aber nur das. Dass ich es mal schreiben will“, sagt Benjamin von Stuckrad-Barre im Interview, als wir in der Raucherlounge des Kölner Grand-Hotels Excelsior sitzen. „Ich hatte nie einen erzählerischen Zugriff auf diese Zeit, weil ich nicht erzählen möchte: ‚Ich war mal in der Klinik und das war so und so.‘“
Stuckrad-Barre wirkt im Frühjahr 2016 nicht einmal ansatzweise so hyperaktiv wie Ende der Neunziger. Der 41-Jährige spricht in teilweise sehr langen, elliptischen Sätzen. Eine Antwort kann sich über neun Minuten erstrecken. Benjamin von Stuckrad-Barre spricht über „Panikherz“, sein neues Buch, das als „Abschied von der Nacht“ angekündigt ist und im Rückblick erzählt von den Jahren seines katastrophalen Absturzes, von einer lebensgefährdenden Drogen- und Magersucht, von den Jahren ruinösen Verfalls.
„Ich habe im letzten Januar angefangen damit, in Los Angeles, und wusste natürlich nicht, dass ich Ende Dezember damit fertig bin und dafür genau ein Jahr da bleibe und dass das Panikherz heißt und 576 Seiten hat und in der Gegenwart beginnt und Gegenwartsschnitte hat und diesen Verlauf nimmt, das sagt einem ja vorher niemand. Das entwickelt sich aus dem Schreiben heraus – und dann plötzlich: Ein Buch.“
Dieses in einjähriger Arbeit entstandene Buch ist keine linear erzählte Biographie, sondern vielmehr die nachträgliche Konstruktion und Re-Konstruktion verschiedener Lebensabschnitte des Autors, eine Literarisierung von Erlebtem, die auf der SPIEGEL-Bestsellerliste unter Sachbuch rubriziert wird, während die Selfie-Prosa von Karl Ove Knausgard weiterhin der Belletristik zugeschlagen wird. Das verwundert, denn „Panikherz“ ist kein Sachbuch: „Ein Ausnahmezustand ist immer gut zum schreiberischen Ausbeuten hinterher. Nur ist es wichtig, dass man nicht mehr drinsteckt, denn sonst ist es Tagebuch oder Bekenntnisprosa und Unsinn.“
Stuckrad-Barre erzählt in Panikherz aus seiner Jugend als Pastorensohn in einer Großfamilie. Er berichtet von seinen ersten Kontakten mit der für ihn weiterhin wichtigen Popkultur und er berichtet aus der Zeit erster Medienerfahrungen, als Redakteur beim Musikmagazin Rolling Stone, als Mitarbeiter bei der Plattenfirma Motor Music, als Gagschreiber bei der Harald Schmidt Show und dann auch von der Zeit als späterer Literatur-Popstar: da gibt es viel Licht, aber noch viel Schatten.
„Und dann entdeckte ich das Kotzen, Magersucht wurde Bulimie. Hundert Prozent Lesesaalauslastung, ein Prozent Fett – das ist das Glück.“ Dieser kurze Ausschnitt aus dem Buch suggeriert, dass Stuckrad-Barre in die Krise und in mehrere Kliniken geriet, weil er erfolgreich war – und weil er später ausreichend Geld hatte, um sich Drogen, viele Drogen – vor allem Koks – zu kaufen.
In „Panikherz“ wird mehr gekokst als in allen Büchern von Bret Easton Ellis und Jay McInerney zusammen. Der Autor aber bestreitet im Interview vehement, dass seine Drogensucht nur durch die damaligen Bar- und Kreditmittel möglich wurde: „Das hieße nämlich, dass man, wenn man kein Geld mehr hat, aufhört. Und das ist aber nicht so, sondern man macht dann weiter. Die Sucht hört auf, wenn die Sucht aufhört, also die sagt ja nicht: Hoppla, kein Geld mehr, alles klar, fertig, Ende. Heute gibt es Orangensaft. Nee. Sucht sagt: Ich bin hier noch nicht fertig. Ich brauche noch ein Weilchen. Und dann wird improvisiert.“
In „Panikherz“ steckt sich Stuckrad-Barre als bulimiekranker Anfang 20-Jähriger immer und immer wieder den Finger in den Hals, weil er dünner, weil er besser aussehen will als alle anderen. Er will sich selbst, seinen Körper nun aber endgültig bezwingen, bis er fadenscheinig daherkommen kann wie David Bowie als Thin White Duke Mitte der Siebziger. Selbst als er in der psychiatrischen Klink sein Gewicht erfährt, denkt er bloß: „Ich wog 62 kg. Das war wohl wenig, nicht aber für mich, ich dachte bloß: Mist, ohne die Bäckereiattacke wären es vielleicht 61 und 61 wären ja besser als 62. Das Wort ‚Untergewicht‘, das Ärzte vorwurfsvoll intonieren, ist für einen Essgestörten eine Auszeichnung, der Albtraum hat einen Namen: Normalgewicht.“
Benjamin von Stuckrad-Barre gibt erst alles Geld aus, das er besitzt und dann noch viel, viel mehr, das er eben nicht mehr besitzt. Der Autor verschuldet sich bei Dealern, ist irgendwann nicht einmal mehr krankenversichert und wird aus Hotels geschmissen. Er bricht den Kontakt zur Alltagswelt ab, verschanzt sich in halb möblierten, schnell verwahrlosten Wohnungen. Und er hängt nachts im Bordell mit den Prostituierten ab. Da ist also eine der größten deutschen Schriftstellerhoffnungen unten, allein, verlassen, derart allein, dass man sich unweigerlich fragt: Konnten denn seine Agenten, konnte sein Verlag nicht gegensteuern, irgendwie aufpassen auf diesen jungen, überforderten Mann?
„Also, ich bin ja kein Kind gewesen. Ich war Anfang 20 und dann ist man in dem Sinne ab 21 sogar passives Wahlrecht, glaube ich, und dann kommt da nicht mehr viel an noch erwachsener werden. (…) auf mich muss ja keiner aufpassen, also das geht ja gar nicht. Also, ein Verlag kann ja nicht auf, dann müssten die ja auch auf Frank Schätzing und auf Bret Easton Ellis aufpassen. Wie sollen die denn das machen? Da müssen die Zivildienstleistende einstellen, Buftis ja, vom Bundesfreiwilligendienst: Nimmst Du mal den Stuckrad? – Och nee, komm’, bin hier mit dem Schätzing, da können wir uns noch in einer Mey-Unterhose fotografieren lassen. Ich war gestern bei Wallraff, Kanufahren wieder, Tischtennis spielen, habe ich jetzt keinen Bock auf Stuckrad. Zu viel rauchen.“
Gerettet wurde der Autor natürlich nicht von irgendwelchen Zivildienstleistenden. In seiner Erzählung war der Retter Udo Lindenberg. Der Musiker ist das frühe Kindheitsidol Stuckrad-Barres – selbst in schwächeren Phasen: „Anfang der 90er Jahre war Udo am Ende. Seine neuen Platten waren leider auch wirklich schlecht, ich kaufte sie zwar noch, aber in Läden, in denen man sonst eher Mikrowellen oder Videorekorder kaufte und durch deren Deckenlautsprecher, neben indiskutabler Mittelschichtsmusik von Phil Collins (die ich heimlich leider auch nicht so schlecht fand, aber das konnte ich bekämpfen), immer sehr rätselhafte Durchsagen schepperten, ‚Fünfzehn bitte die Neunzehn‘ oder so.“
Stuckrad-Barre merkte, dass er „die Geschichte über Freundschaft und über die Nacht“ erzählen könnte, „indem ich Udo Lindenberg als Märchenfigur mit durch das Buch nehme, in dem sich in meiner Kindheit ganz viele Projektionen bündeln und ein Urknall für mich was die deutsche Sprache angeht, damit spielerisch umzugehen. Da war Udo für mich wirklich eine große Station in meinem Gedankengebäude, in meinem Denken und in meiner eigenen Freude an der Sprache und das merkte ich dann, dass Udo sich da eignet, weil die Geschichte, die ich mit ihm habe, die also von einem Kinderfan dann zu einem enttäuschten Fan, als Udo in der Krise war und dass ich nach Hamburg ging, weil das für mich das gelobte Land war aufgrund von Udo-Platten in der Kindheit, dort aber dann Tragödie griechischer Art, meinen Helden vorfand in nicht guter Verfassung und ihn gleichzeitig in einem Akt von brutaler Zwanzigjährigkeit kleinmachen musste, um mich selbst überhaupt zu hören.“
Obwohl also der Autor als junger Journalist Grobheiten über den Musiker verfasste, wird er später von ihm aufgebaut, motiviert und als Freund angenommen. Deshalb ist „Panikherz“ auch eine große Hommage an Udo Lindenberg, an diesen Mann, der wie wenige hierzulande weiß, wie man Authentizität in eine künstliche Szene setzt. Dieses Prinzip hat Stuckrad-Barre übernommen. Im hellsten Licht, vor Augen aller, versucht der Text, Scheitern in Sprache zu übersetzen, die Todesfurcht zu erzählen, was zu einem Überschlagen des discours führt, mit Neologismen, mit komplett groß, also in Majuskeln geschriebenen Signalwörtern, die zeigen, dass nur noch ein Ausbrechen des Schriftbildes aus der Norm fähig ist, den großen Empfindungen beizustehen. Panikherz ist Zeugnis einer gewaltigen Idiosynkrasie, und die ist „…gleichzeitig ein Problem, aber natürlich auch die Grundvoraussetzung meines Schreibens und deshalb ein Austarieren und einen Umgang damit erzeugt; letztlich Produktion. Überhaupt schreiben und sprechen ist ja eine Form von Subjektivierung und Weltzugriff und etwas formulieren heißt auch: sich formulieren. Das ist ja nicht der Unsinn, jemand schreibt „nur“ über sich selbst. Das ist ja ein Quatsch, man schreibt automatisch, auch wenn man über andere schreibt, über sich selbst, denn man beschreibt, wie man die sieht.“
Zur Nacht zog es Benjamin von Stuckrad Barre stets hin und irgendwann zog die Nacht ihn in alle Abgründe, die Nacht zu bieten hat; aber nicht plötzlich, nicht unfallartig. Im Buch wirkt dieses Hinabziehen und sich Gefangennehmen-Lassen von der Nacht wie die logische Konsequenz aus Stuckrad-Barres Idiosynkrasie, seinem hysterischen Fantum und auch seinem Wunsch, hinter Kulissen blicken zu können: „Also einfach als Zwölfjähriger versteht man das ja gar nicht so genau, aber man weiß, irgendwie ist das lustig oder da will man irgendwie hin, also diese Welt, die Udo, ja, das sind ja irgendwie Märchenplatten gewesen, Cowboys, Männer an der Bar und alle haben immer einen sitzen in diesen Texten; man denkt – das ist offenbar abends, das muss ein bisschen gefährlich sein, da sind Frauen und da haben alle einen in der Krone. Das reimt man sich ja so zusammen.“
Interessant ist, dass sich Benjamin von Stuckrad-Barre im Moment der Überforderung sowohl fürs Todesfasten als auch für den überbordenden Drogenmissbrauch entscheidet, also für die Askese und die Extase gleichermaßen – als würde das Eine das Andere austarieren. An einen christlichen Gott hat Stuckrad-Barre in jenen Jahren übrigens nicht gedacht, daran denkt er auch heute nicht, Pastorensohn hin oder her: „Auch da wieder Hinterbühne. Ich bin sozusagen in der Kirche aufgewachsen, einfach, weil wir da gewohnt haben, immer im Pfarrhaus oder in der Dienstwohnung, einfach direkt neben dem Glockenturm, also Hinterbühne. Ich sehe meinen Vater im Unterhemd, um 20 vor zehn über den Flur jagen und er fragt, wo ist mein Beffchen, das ist dieses weiße Ding, was da über dem Talar hängt, bums, Gegenschnitt, von vollem Ornat kann hier ja nicht gesprochen weil es Protestantismus ist und runtergestrippt, also weniger Showeffekte als in der katholischen Kirche, aber wenigstens darf man Kinder haben, und dann sehe ich meinen Vater da vorne stehen und mit dieser etwas anderen Stimme sozusagen, seinen Beruf dort ausüben, aber dann sehe ich natürlich das Unterhemd mit. Ich höre, wie er sagt: „Im Römerbrief haben wir diese Woche, haben wir das und das“ und dann denke ich: „Ja, wo ist mein Beffchen?“ Das funktioniert dann nicht.“
In „Panikherz“ wird dem christlichen Gott der Kindheit der spätere Erlöser Udo Lindenberg entgegengesetzt, die Sichten auf Hinter- und Vorderbühne wechseln rasant – konsequent dialektisch, permanent. Das Buch ist der gelungene Versuch, Verdrängtes und eigentlich Unerzählbares in Form und Sprache zu bannen. Und damit ist „Panikherz“ nicht weniger als die düstere Schlussfolgerung aus dem hellen „Soloalbum“-Debüt von 1998. Vor allem aber ist es kein Sachbuch. Es ist keine Bekenntnisschrift. Im Gegenteil. „Panikherz“ ist der Roman eines Schriftstellers, der sich selbst bis aufs Schmerzhafte zum Sujet gemacht hat – und dabei mit sensiblem Gespür sein Ich endlich wieder in schillernde Literatur verwandelt hat.
Benjamin von Stuckrad-Barre: „Panikherz“, Kiepenheuer & Witsch, 576 Seiten, 22,99 Euro