Neue Sicht und Hörweisen interessierten Maler, Schriftsteller, Philosophen, Musiker an der Schwelle vom 18. ins 19. Jahrhundert. Im damals entstandenen Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ des romantischen Malers Caspar David Friedrich sieht László F. Földényi unser Kino avant la lettre.
Wie viele gute Bücher beginnt auch dieses mit einem Geheimnis. Es steckt in Caspar David Friedrichs „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ aus dem Jahr 1818. Das Bild zeigt in Rückenansicht einen Mann, der auf einer Anhöhe steht. Unter ihm wabern dichte Schleier. Der unbekannte Betrachter blickt in die Landschaft, während wir den Betrachter anschauen. Es ist eine leicht überschaubare Szene.
“Und doch hat das Ganze etwas Rätselhaftes, das sich nicht lösen lässt. Ein scheinbar unüberwindbares Hindernis, das unverhältnismäßig große Ausmaße annehmen kann.“ Diesem unverhältnismäßig großen Ausmaß der Irritation folgt László Földényi in seinem kreuz und quer in entlegene Winkel der Geistesgeschichte schauenden Langessay „Der Maler und der Wanderer“.
Die Extreme
Földényi zeigt anhand zahlreicher, leider kontrastarm und nur schwarzweiß abgedruckter Bildbeispiele, wie sich die Art und Weise der Weltbetrachtung radikal änderte an der Schwelle vom 18. ins 19. Jahrhundert. Ein prägnantes Beispiel ist für ihn der romantische Maler Caspar David Friedrich, dessen Bilder die multiperspektivische Darstellung des Kinofilms vorwegnahmen. Sie orientierten sich nicht mehr am natürlichen 45-Grad-Ausschnitt, sondern präsentierten mit bis zu 110-Grad umfassenden Panoramen widernatürliche Kompositionen, die teilweise sogar die kubistische Art der Komposition vorwegnahmen.
„Die Frage, die Friedrich beschäftigte, ist keine geringere als die, ob der Mensch die perspektivische Darstellung zu überwinden vermag. Anders formuliert: Ob es möglich ist, dass der Sehpunkt und der Fluchtpunkt zusammenfallen und der sehende Mensch nicht zwischen zwei Extremen hin und her schwankt, sondern beide miteinander vereinen kann.“ Über diese Extreme, zwischen denen der Mensch hin und herschwankt, schrieb bereits der französische Philosoph Blaise Pascal 150 Jahre zuvor in seinen fragmentarisch-aphoristischen „Gedanken“.
Endlich im Heißluftballon
Doch an der Schwelle des 19. Jahrhunderts kamen zahlreiche Erfindungen auf, mit denen sich der Mensch von den Extremen lösen konnte. Perspektivisch entstand eine Art „omnivisio“, ein göttlich ganzes Sehen. “1815 erfand David Brewster das Kaleidoskop, bald darauf folgten die auf ähnlichen Prinzipien beruhenden Kromatrop, Oktoskop, Designoskop – lauter Geräte, die das Sehen immer beweglicher machten. 1826 erschien das Thaumatrop, ein einfaches, optisches Spiel, das auf dem Phänomen der Nachbilderscheinungen, also der Beobachtung beruhte, dass ein Bild von der Retina noch nicht verschwunden ist, wenn das nächste bereits darauf erscheint.”
Die Menschen stiegen in Heißluftballons, ließen sich im Theater von projizierten Bildern der „Laterna magica“ verzaubern, bestaunte das Allerkleinste durch Mikroskop-Linsen und nahmen damit neue, bislang allein Gott zugeschriebene Perspektiven ein. Im Universum nahm der Mensch einen neuen Status ein. “Im Zeitalter der Aufklärung und der Romantik blieb das nicht theologische, sondern – mit Hans Belting gesprochen – anthropologische Bedürfnis nach Glauben genauso lebendig wie je zuvor. Das erklärt auch, warum parallel zur ‚Entthronung’ Gottes der Mensch selbst danach zu streben begann, an dessen Stelle zu treten und sich für allmächtig und allsehend zu halten.“
Wir als Gott
Földényis Essay „Der Maler und der Wanderer“ rekonstruiert mithilfe von Malern wie Caspar David Friedrich und Gustave Caillebotte, von Schriftstellern wie Heinrich von Kleist und Novalis, entlang der Überlegungen Arthur Schopenhauers und Jean Baudrillards, warum wir im Jahr 2021 einer zersplitterten, sich teilweise widersprechenden Sichtweise anhängen – und gleichsam glauben, diese Sichtweise sei absolut. Es ist eine Form von Hybris, die möglicherweise im Zeitalter Caspar David Friedrichs ihren Anfang nahm.
„Nicht umsonst wurde ‚Totaleindruck’ einer der beliebten Begriffe der Zeit. (…) Cusanus hat darauf hingewiesen, dass, wenn man ein Buch aufschlägt, die Seite zunächst als verschwommener Anblick vor einem erscheint. Will man die Bedeutung der Buchstaben, der Silben, der Worte verstehen, muss man sie der Reihe nach, eines nach dem anderen, lesen und das Geschriebene Schritt für Schritt, Zeile für Zeile in sich aufnehmen. Nicht so Gott, meint er, der im Gegensatz zu den Menschen über die Fähigkeit des Totaleindrucks verfügt.“
Es bleibt ein Rätsel
Földényi spricht es nicht aus, doch deutlich wird, dass dieser Totaleindruck nur durch Illusion zustande kommt. Wer also behauptet, er besitze die Fähigkeit zur omnivisio, zum göttlich ganzen Sehen, erliegt einer Täuschung, ebenso wie jene Betrachter, die im Jahr 1818 glaubten, Caspar David Friedrichs „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ sei eine leichthin zu erfassende Abbildung der Realität. Dabei zeigt dieses Bild eben nicht die Realität – sondern ein Rätsel: „Man kann viel über ihn sagen, kann über das, was er sieht und wie er sieht, sogar ein Buch mit dem Titel Der Maler und der Wanderer schreiben. Seinem Ich nahezukommen, vermag man dennoch nicht.“
So schlägt man demütig dieses Buch zu, in dem László Földényi am Ende neue Fragen statt Antworten liefert – und bleibt dankbar, dass der ungarische Literaturwissenschaftler mit „Der Maler und der Wanderer. Caspar David Friedrichs Urkino“ geistreich durchs unwegsame Gelände geführt und in konstruktivistischer Manier gezeigt hat, dass jeder lediglich sieht, was der andere nicht sehen kann – aber dass beide Sichtweisen oft ebenso gültig wie ungültig sind, dass wir also keinen Anlass haben, der Welt als ein Gott entgegenzutreten.
László F. Földényi: „Der Maler und der Wanderer. Caspar David Friedrichs Urkino“, aus dem Ungarischen übersetzt von Akos Doma, Matthes & Seitz, Berlin, 180 Seiten, 22 Euro