Als Amanda Gorman bei der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden im Januar 2021 „The hill we climb“ vortrug, geriet eine spezifische, lyrische Gattung in den Fokus der Weltöffentlichkeit: das sogenannte Langgedicht, das auch hierzulande immer mal wieder als Form genutzt wurde. Nun wagt sich der 1975 geborene Berliner Björn Kuhligk auf die lange lyrische Strecke und erinnert an eine herausfordernde Zeit.
Am Lagerfeuer haben die ersten Erzähler ihr Publikum einst versammelt und mit Blick in den Funkenflug den gebannten Zuhörern alles Kuriose berichtet. Ähnlich kollektiv erscheint nun Björn Kuhligks Langgedicht über das erste Corona-Jahr und die damals auftauchenden, teilweise nicht weniger kurios wirkenden Erscheinungen. Er berichtet von bedürftig wirkenden Pandemie-Selfies, die damals die Sozialen Netzwerke fluteten, von den zahlreichen Balkonkonzerten und von Zoom-Konferenzen, Homeschooling und Netflix-Abenden, die unsere Datenströme anschwellen ließen. So überraschungsfrei das im ersten Moment klingen mag: Vieles erscheint noch einmal neu. Ein Ich zeigt sich verwundert, weil das seltsame Wort „Reproduktionszahl“ in einem seiner Verse auftaucht. Noch einmal wird die Stimmung der Lockdown-Zeit präsent, dieser Ennui der Erstarrung, des Ab- und Ausgeschlossenseins.
„Alles Gute kam wie alles Schlechte kam
plötzlich liebten alle, wirklich alle die Menschheit
uns fehlten die Flugreisen, Kreuzfahrten, Plünderungen
wir lernten die Hände richtig zu waschen
wir schnitten uns die Haare selbst
wir übten den Fuß-, den Ellenbogengruß
wir lernten deutlich sprechen
wir aßen drei Mal am Tag gemeinsam
der Gipfel des Mount Everest war geschlossen
der Wunsch der Kinder: endlich mal
wieder alleine zu Hause sein“
Ein Pestkreuz gegen die Pandemie
Das erzählende Ich wird durch glückliche Fügung von Corona verschont und hat deshalb ausreichend Muße, den Stillstand achtsam festzuhalten, mit seiner Kamera und zahlreichen, behutsam gewählten Sätzen, die selbst wie die Beschreibung einzelner Fotografien sind. Das Ich ist dem kollektiv bedrohten Wir gegenübergestellt. Es verfolgt die Zählung der Toten und Infizierten, registriert aber auch die Blumen, die langsam auf dem geschlossenen Friedhof verblühen. Die ersten Lockdown-Wochen erscheinen als Stillleben, während der Papst geradezu dramatisch ein wundertätiges Pestkreuz besucht:
„das Pestkreuz wurde in den Vatikan getragen
den verlassenen Petersplatz vor sich
segnete der Papst im Beisein
des Kreuzes die Menschheit“
Gegliedert ist die Erzählung in drei Teilen. Auf die erste Beruhigung, die das hier vorgestellt Ich erfüllt, folgt sommers eine Euphorie, die schließlich in eine psychische Krise führt. Anfangs macht das Ich in meditativer Gestimmtheit Inventur. Es betrachtet sein Mobiliar und hält noch den kleinsten Kontakt zu seinen Mitmenschen fest wie ein seltenes Gut. Heimlich ist die Umarmung eines Freundes, bei der beide die Luft anhalten. Erst mit dem Sommer wird das Leben lockerer, leichter.
„An einem Morgen im Juni
passierten wir am Brenner die Grenze
wir fuhren in das weiche Licht, sahen hinab
auf das Wasser, auf den von Gletschern
geschliffenen Graben, in dem der See
er war die ganze Welt, in strenger Schönheit lag“
Die Fläche meiner Traurigkeit
Nach dem Lockdown wird das neu gewonnene Leben mit allen Sinnen erfasst, auch scheinen die Verse avancierter, bis der Herbst mit seinen steigenden Infektionszahlen die mürb und müde gewordenen Menschen peu à peu in einen psychischen Ausnahmezustand versetzt.
„ich war aufgeworfen, nach allen Seiten offen
die Fläche meiner Traurigkeit war absolut
ein Ort, an dem ich das altrosa Schlagen
meines Herzens faustgroß hörte“
Anspielungsreich, in diesen Anspielungen nie aufdringlich ist Björn Kuhligks Bestandsaufnahme, in der sogar die blühenden Forsythien mehr sind als leuchtende Frühlingsboten. Im Kontext der Pandemie wirken die Ölbaumgewächse wie Hinweise auf Steven Soderbergs Pandemie-Spielfilm „Contagion“, denn eben dort werden Forsythien als mögliches Heilmittel gegen eine andere, noch tödlichere Krankheit diskutiert. Resigniert erscheint hingegen das Ende von Kuhligks Psychogramm. Sein Ich stellt zwölf Monate nach dem ersten Lockdown fest:
„die Todgeweihten grüßten uns, tickten
die Gletscher, aus der Feuerschale
der Funkenflug, Nachricht an die Sterne:
Wir sind nicht friedlich, was seid ihr.“
Chance auf eine neue Solidarität
So endet „An einem Morgen im März“ pessimistisch, mit der Feuerschale, dem Funkenflug noch einmal das Lagerfeuer anrufend, vor dem sich die Leserinnen und Leser dieses falbschönen Bandes versammelt haben. An zwei Stellen wird gesagt, dass gewiss niemand die Corona-Romane lesen will, die nach der Katastrophe unweigerlich entstehen. Tatsächlich reicht die kurze, wehmütig abgeschrittene Strecke, um noch einmal an das zu erinnern, was uns im ersten Corona-Jahr buchstäblich den Atem geraubt hat. In Kuhligks Langgedicht ist der Ausnahmezustand nicht nur Krise, sondern auch eine Chance für neue Formen der Solidarität. Doch zeigt „An einem Morgen im März“ eindringlich, dass eben diese Chance von uns allen binnen kürzester Zeit schlichtweg vermasselt wurde.
Björn Kuhligk: „An einem Morgen im März“, Hanser Berlin, 80 Seiten, 22 Euro