Immer wieder wechseln Autorinnen und Autoren zwischen den unterschiedlichen Gattungen – wie selbstverständlich hat Johann Wolfgang von Goethe Theaterstücke, Gedichte und Romane veröffentlicht. Noch heute gibt es zahlreiche Lyrikerinnen und Lyriker, die irgendwann zur Prosa wechseln – von Ulla Hahn über Silke Scheuermann bis Albert Ostermeier. Gleiches gilt für Stückeschreiber wie Nis-Momme Stockmann, der zunächst als Theaterautor reüssierte, bevor er 2016 den gewaltigen Roman „Der Fuchs“ veröffentlichte – aber es geht auch eine Nummer kleiner, wie bei Björn Bicker, der seit beinahe zwanzig Jahren Stücke schreibt und nun einen Band mit zehn Erzählungen im Münchner Kunstmann-Verlag veröffentlicht. „Aminas Lächeln“ heißt das Buch, in dem verschiedene Figuren vor psychischen Herausforderungen, ja geradezu Überforderungen stehen.
Wir leben in sprachskeptischen Zeiten. Schon vor mehr als einhundert Jahren bezweifelten Dichter wie Rainer Maria Rilke oder Hugo von Hofmannsthal, dass die Realität sprachlich adäquat abgebildet werden könne. Inzwischen wird oft das Gegenteil behauptet: dass Sprache die Realität auf eine häufig problematische Weise beeinflusse. In zehn sehr komplexen Geschichten stellt Björn Bicker nun Menschen vor, die durch sprachliche Äußerungen in unangenehme Situationen geraten – weil sie sich nicht mitgemeint oder falsch angesprochen fühlen.
Bereits in der ersten Erzählung wird eine lesbische Suchtberaterin vorstellt. Gemeinsam mit ihrer Partnerin möchte sie Kinder bekommen. Die beiden Frauen wenden sich an Ingo, einen Freund, der sich gleich zweimal zu einer Samenspende bereit erklärt. Als die Frau, die die Kinder ausgetragen hat, ihnen Jahre später vorschlägt, sie könnten Ingo nun endlich als „Papa“ anreden, zerbrechen in ihrer Partnerin alle Hoffnungen. Sie fühlt sich durch diesen einen, lapidar dahingesagten Satz von der gemeinsamen Elternschaft ausgeschlossen. Ihre Enttäuschung wird zur Wut – und diese Wut richtet sich auch gegen die Kinder.
„Ich erschrak vor mir selber, immer öfter, ich versuchte meine Wut bei mir zu behalten, aber es gelang mir einfach nicht. Ich packte den Kleinen an den Armen, wenn er nicht essen wollte, ich sperrte ihn in sein Zimmer ein, wenn er seine Spielsachen rumliegen ließ, ich machte ihm absichtlich viel zu heißen Tee, damit er sich beim Trinken den Mund verbrannte. Ich war so sauer, dass ich andauernd irgendjemandem wehtun musste.“
Gefühle werden abgesprochen
Ein Mensch wird durch einen Satz zum Monstrum, doch lässt bereits diese Geschichte offen, ob allein die Sprache verantwortlich ist für die Übergriffe der gekränkten Frau. An einer anderen Stelle hat ein Mann fürchterliche Angst vor einer Schlauchboottour. Seine Kollegen wollen diese Fahrt unternehmen, um als Team zusammenzuwachsen. Der Mann aber fürchtet sich vor den Strudeln und Strömungen. Per WhatsApp bitte er seine Frau um Hilfe.
„Su, hol mich hier raus, ruf jetzt an und sag, dass du einen Unfall hattest und ich sofort nach Hause kommen soll, dass wir ins Krankenhaus müssen, gebrochenes Bein, die Wehen, die Wehen setzen ein, bitte, was weiß ich, Su, ruf an, jetzt, ich schreibe Su auf WhatsApp, hol mich hier raus, jetzt, denk dir was aus.“ – Doch Su antwortet nur, er solle sich nicht so anstellen. Sie spricht ihrem Mann die unguten Gefühle ab – und löst so eine psychische Krise aus. Der Körper des Mannes täuscht vor, er habe einen Herzinfarkt.
Sprache ist kein Allzweckschlüssel
Drei Geschichten weiter verzweifelt eine engagierte Lehrerin an den aufgesetzt optimistischen Sätzen ihres Direktors, der eine deutliche Sprache vermeidet und so offenkundige Probleme mit Euphemismen überdeckt – bis ein Problemschüler, dem niemand helfen wollte, zum Mörder wird und einen seiner Mitschüler ersticht. So hat die Sprache verhindert, dass etwas Unheilvolles rechtzeitig erkannt wird. Der Beobachtung einer Kollegin folgend, war die Sprache gleichzeitig mitverantwortlich für die sich stetig verschlechternde Entwicklung des jugendlichen Täters. Allerdings nicht die Sprache des Direktors, sondern die vermeintlich fehlende Sprache im Elternhaus des Teenagers.
„Da könne man doch verstehen, dass der junge Mann Probleme habe und nicht mitkomme, wenn sich die Mutter weigere oder zumindest schwertue, die Sprache des Landes zu lernen, in dem sie lebe. Das müsse sich doch zwangsläufig auf die Leistung des Jungen auswirken, wenn zu Hause gar kein Deutsch gesprochen werde, schließlich sei Sprache doch der Schlüssel zu allem.“
Keineswegs ist Sprache der Schlüssel zu allem. Das zeigen diese zehn, sehr komplex erzählten Geschichten. Sie zeigen, dass Sprache einen gewissen Einfluss auf Handlungen und Empfindungen haben kann. Sie zeigen aber auch, dass Sprache selten die alleinige Ursache psychischer Krisen, peinigender Gefühle oder gewalttätiger Ausbrüche ist. Es kann sogar passieren, dass die Aussagekraft der Sprache vollends versagt, beispielsweise dann, wenn einem Menschen deutlich gemacht wird, dass er bald sterben muss. Sätze über den Tod überhört man gern. So bleibt das Verhältnis von Sprache und Sein in diesem Band ambivalent. In dieser Ambivalenz erlaubt Björn Bicker einen poetischen Blick auf die niemals gültig zu beantwortende Frage, ob die Sprache das Sein oder vielmehr das Sein die Sprache bedingt. Beides kann wahr sein, ebenso beides: falsch. Das zeigt „Aminas Lächeln“ auf eine faszinierende, ja geradezu schillernde Art und Weise.
Björn Bicker: „Aminas Lächeln“, Kunstmann, München, 240 Seiten, 24 Euro