Kann Konsumieren eine Kulturtechnik sein? Was haben das iphone und Goethes „Faust“ gemeinsam? Wie steht‘s um den Fiktionswert von Zitronenpressen? Ein großartiges Buch beschreibt die „Kritik der warenästhetischen Erziehung“.
„Es dauerte lange, bis akzeptiert wurde, dass sich eine gut erfundene Geschichte mit Gewinn lesen lässt. Also wird es künftig vielleicht auch einmal selbstverständlich sein, ein neues Produktdesign breit und engagiert auf seinen fiktionalen Wert hin zu diskutieren.“ Wolfgang Ullrich, Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie beschreibt, warum Marken wie Apple, Moleskine oder Weleda heutzutage derart mit Hinzugedichtetem aufgeladen sind, dass man sie ebenso gut wie einen Roman entziffern kann. Denn sie versprechen nicht bloß Kommunikation, Notizblätter, Sauberkeit, sondern gleich eine Liebesbeziehung, Gedanken wie Ernest Hemingway und Picasso, und den Einklang von Mensch und Natur. Damit wir das ansatzweise glauben müssen Geschichten um das Produkt herum erzählt werden, erfundene Geschichten, ebenso wie Romane erfundene Geschichten sind.
So haben Hemingway und Picasso nie in ein Moleskine geschrieben. Die Notizbücher gibt es erst seit den 1990er Jahren. Ein iphone kann man auch nicht lieben, es sei denn, man gehört zu der eher randständigen Gruppe sogenannter objektophiler Zeitgenossen. Und ob man den Einklang von Mensch und Natur durch ein Produkt spüren kann, das in jedem zweiten Supermarkt erhältlich ist: zweifelhaft. – Warum glauben wir dennoch an diese Geschichten? Das Buch „Alles nur Konsum – Kritik der warenästhetischen Erziehung“ ist im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes entstanden, in dem Wolfgang Ullrich mitarbeitet: „Da geht es darum, wie das Verhältnis der Menschen zu Konsumprodukten in verschiedenen Medien zur Geltung kommt. Im Film, in der Literatur, in der Popmusik etwa. Mein Team beschäftigt sich mit den Fotos von Konsumprodukten, die Leute oft aufwendig aufnehmen, um sie dann in Social Media Websites wie Flickr oder Instagram zu posten. Uns interessiert, wer das tut, welche Ikonographien dabei neu entstehen und was das über einzelne Marken oder Produkttypen aussagt.“
Denn Markenbilder wollen heutzutage das Gleiche schaffen wie große Ölgemälde alter Meister vor vielen hundert Jahren. Sie wollen uns überwältigen, in ihren Bann ziehen, becircen und uns träumen lassen. Und „wer ein Mineralwasser verwendet, das wie ein Medikament aufgemacht ist, erlebt das Wassertrinken ganz anders als jemand, der eine Sorte konsumiert, die wie ein Fitnessgetränk oder aber wie eine Spirituose inszeniert ist. So wie man ein Naturphänomen durch ein Gedicht von Matthias Claudius ganz anders erlebt als durch eines von Georg Trakl.“ Produkte werden inszeniert. Das war schon früher so, wenn reiche Adelige sauteure Unikate anfertigen liessen, die den Unterschied zwischen dem einfachen Volk und ihnen, den Auserwählten markierten. Neu ist aber, dass diese Inszenierungen durch Massenprodukte uns allen zur Verfügung stehen. Damit verbunden ist gleichzeitig, dass wir uns nicht mehr allein mit der Funktion eines gekauften Markengegenstandes auseinandersetzen. „Eine Zitronenpresse, die einen halben Meter hoch ist, oder eine Muskatmühle, die hundertmal so groß ist wie die Nuss, die sie reiben soll, lassen es gar nicht mehr zu, die jeweilige Tätigkeit beiläufig zu betreiben.“
Das heisst, die Produkte sind mit Informationen aufgeladen, die weit über das hinausgehen, was Vilém Flusser einst über „informierte Gegenstände“ erzählt hat. Hat man einen steinzeitlichen Hammer in der Hand, dann weiss man, dass Neandertaler mit Werkzeug umgehen konnten, das ist die Information, die klassischerweise mit diesem Gegenstand hinzugeliefert wird. Wer aber heute einen Estwing Schlosserhammer von Manufactum (54 Euro statt 7,95 Euro fürs einfache Baumarktprodukt) in den Warenkorb legt, der kann damit nicht nur Nägel in die Wand hauen, sondern sich gleichermaßen sicher sein: „Es gibt sie noch, die guten Dinge.“ – Man schlägt dann nicht einfach einen Nagel in die Wand, sondern begib sich in eine phantasierte Welt, wo seit 1923 „highest possible standards“ gelten. Früher musste man für den Übergang in diese andere Welt jedenfalls keinen Hammer in die Hand nehmen. „Wer etwa Natur sentimental oder feierlich erfahren wollte, bereitete sich mit einem Gedichtband darauf vor, um nach dem Erlebnis von Meer, Bergen und Sonnenuntergängen seinerseits zur Feder zu greifen und Verse zu schreiben. Eine vergleichbare Funktion erfüllen heutzutage Konsumprodukte.“
Menschen, die sich ein bisschen Wellness gönnen, greifen zu den zahlreichen, Entspannung versprechenden Waschessenzen und stellen sich mit Werbebildern geimpft unter die Dusche. Übrigens war dieses Duschen bis in die 1970er Jahre nicht mehr als eine praktische Möglichkeit, sich zu säubern. Auch Deostifte versprachen lediglich: zu deodorieren. Inzwischen lockt die Werbung wahlweise mit Sex, Selbstbewusstsein oder Stresskompensation. – Wer müde ist, aber noch ein Weilchen arbeiten will, der greift dagegen zum Energy Drink. Hier haben allerdings Untersuchungen gezeigt, dass die Getränke nur dann einen positiven Effekt auf die Leistung des Konsumenten haben, wenn sie von namhaften Herstellern stammen. Bei No-Name-Produkten verpufft der versprochene Boost irgendwo im Nirgendwo, wo der Placebo-Effekt nicht greifen kann. Es kann sogar noch schlimmer werden, wenn man durch die Verwendung von Billigprodukten denkt, nun weniger als die anderen leisten zu können.
Den schnöden Handelsmarken fehlt es an Inszenierungsbeispielen, die einem Red Bull mit seiner Werbung gleich an die Hand gibt. Selbst der Buchhandel bemüht sich Schritt zu halten, wenn Romane nicht mehr in den Regalen stehen, sondern chic aufgemacht mit passendem Surrounding daherkommen: „Zu einem in London spielenden Thriller gibt es dann Afternoon Tea, Cakes und Drops. Ausgehend von einem Buch wird also eine komplette Situation arrangiert, um es dem Kunden zu erleichtern, sich schon im Laden in die Welt versetzt zu fühlen, die sich sonst erst bei der Lektüre eröffnet.“ – Morgens begibt man sich mit dem Kapselkaffee nach Italien, trinkt Orangensaft, der einen als Gourmand adelt und steigt dann in ein Auto mit der Ideallinie der Alphatiere. „Wer will, kann sein Leben heutzutage als fugenlose Abfolge von Situationen führen, die vom Marketing konfektioniert werden“, sagt Wolfgang Ullrich. Das hat selbstverständlich nicht nur eine faszinierende, sondern auch eine verdammt unheimliche Seite.
Wenn es gelingt, durch Marken besser durchs Leben zu kommen, weil einen die Erzählungen um das Produkt mit guten Gefühlen aufladen, dann kann der Markenverzicht einen doppelt negativen Effekt zeigen: „Wer ohnehin schon unterprivilegiert ist, wird durch Billigkonsum erst recht auf die Rolle eines Verlierers fixiert.“ Oben sind die mit Markenversprechen gedopten Wohlstandskonsumenten, unten die vom Billigkonsum geschädigte Unterschicht. Es ist also mehr als nur ein Spiel. Marken lesen zu können bedeutet auch, weniger empfänglich zu sein für ihre irreführenden, antiaufklärerischen Versprechen. – Geht Wolfgang Ullrich nun, nach so viel markentheoretischer Forschung, mit anderem Blick einkaufen? „Kaum anders als früher“, sagt er. „Ich gehe immer schon am liebsten in Läden, um mir Produkte wie Exponate einer Ausstellung anzuschauen. Nicht selten staune ich freilich über die Ideen des Marketing – und bin manchmal beeindruckt, manchmal amüsiert, manchmal aber auch nur ratlos.“ Gegen allzu viel Ratlosigkeit hilft dieses uneingeschränkt empfehlenswerte Buch.
Wolfgang Ullrich: „Alles nur Konsum“, Wagenbach, 208 Seiten, 11,90 Euro