Simon Brenner hat viel um die Ohren und einiges am Hals, darunter ein verschwundenes Herz, einen Kriminaler namens Kopf und möglicherweise auch die die Organmafia – im lang erwarteten neuen Krimi des österreichischen Bestsellerautors Wolf Haas.
Schrott, Schutt, Stoff und Mist – zahlreiche Bezeichnungen findet Wolf Haas für den Müll in diesem Roman, der seine Hauptfigur Simon Brenner erneut im Prekariat abholt. Bei der Ex rausgeflogen, lebt er illegal als sogenannter „Bettgeher“, als heimlich Eingenisteter in einer vorübergehend verlassenen Wohnung. Den kargen Unterhalt für das Wenige, was er braucht, verdient er auf einem der Wiener Mistplätze, wo mit einer schaurigen Entdeckung alles seinen Anfang nimmt:
„Die ersten Leichenteile sind in der Wanne 4 aufgetaucht. Also ein Knie war das Erste, ist ja eh alles in der Zeitung gestanden, muss ich jetzt nicht so im Detail. Rechtes Knie, soweit ich mich erinnere. Aber egal, rechtes oder linkes Knie, in Wanne 4 gehört kein Knie hinein. Da ist sogar egal, ob es ein menschliches Knie ist oder ein tierisches Knie, nicht einmal ein Titanknie darf da hinein, und das Knie von einer Wasserleitung auch nicht, weil Wanne 4 nur Sperrmüll.“
Jetzt interessant
Binnen einer Stunde finden die Mistler außerdem mehrere Finger, einen linken Fuß und einen Kopf – die menschlichen Überreste des Millionärs Franz Schall. Der wurde vermutlich von seiner Frau umgebracht. Die wiederum ist verschwunden, ebenso ein wichtiges Körperteil des Ermordeten: sein Herz. Passenderweise werden die polizeilichen Ermittlungen geleitet von einem Kriminaler, der mit Nachnamen „Kopf“ heißt und vor langer Zeit von Simon Brenner ausgebildet worden ist.
“Jetzt interessant. Der Kopf war immer noch zehn Jahre jünger als der Brenner, aber er war jetzt zehn Jahre älter als der Brenner damals bei der Kripo. Wenn du einen anschaust, der gleichzeitig jünger und älter ist als du, da wirst du verrückt im Hirn, da legst du dich am besten gleich beim Albert Einstein persönlich auf die Couch und stehst nicht mehr auf. Weil in diesem verrückten Zeitspalt ist das halbe Leben vom Brenner gelegen, wenn nicht das ganze.”
Müll als Prinzip
Der Sound ist das prägnanteste Merkmal dieses „Müll“-Romans, der wie eine Beziehungsstudie wirkt, da jeder mit jedem in Verbindung steht, was den Brenner herausfordert, soll er doch gleichzeitig auf dem Mistplatz arbeiten, sich herumschlagen mit der Besitzerin jener Wohnung, in die er selbst eingebrochen ist und dann noch über Menschen recherchieren, die möglicherweise für die Organmafia tätig sind. Diese Ermittlung ist – selbstverständlich für Wolf Haas – nicht nur kriminalistischer, sondern auch soziologischer und sprachwissenschaftlicher Natur.
So viel Müll taucht auf, dass alles zum Mistplatz wird, zu einer Welt der Sortierwannen, Kisten und Truhen, der Schrotthaufen und mit Unrat gefüllten Garagen. Das Ein- und Umsortieren, das Abwägen von Recycle- und nicht mehr Verwertbarem legt sich als Prinzip über dieses Buch, dehnt sich aus über alle Orte, Handlungen, Menschen: „Jetzt musst du eines wissen. Bei den städtischen Betrieben gibt es immer ein paar Posten für Leute, ich will jetzt nichts Falsches sagen, aber sagen wir einmal so: Es fehlt wem ein Arm, es ist einer blind, es zieht einer das Bein nach, solche Sachen, dann kriegst du da leichter einen Posten, weil Gesetz.“
Krank im Hirn
Diese ableistische, also Personen mit einem Handicap diskriminierende Rede richtet den Blick wie an vielen weiteren Stellen auf die Abwertungen eines Systems, das dem millionenschweren Firmenchef viel, dem Organspender wenigstens etwas Nutzen zuspricht, das kranke Individuum jedoch eher achtlos behandelt. So wie das ebenso vermögende wie narzisstische Mordopfer – der Firmenchef ohne Herz – seine Gattin im Stich gelassen hat, als die krebskrank darniederlag, „weil er Angst gehabt hat, die Medikamente werden zu teuer. So war der. Krank im Hirn! Aber den Krebs hat die Mutter bekommen.“
Viel Diskussionsstoff steckt in diesem Roman, der jedoch teilweise arg brav und bieder erscheint und insbesondere in der ersten Hälfte erwartbar ist wie die Müllabfuhr am Mittwochmorgen, erwartbar in seiner Struktur, in seinen Wendungen, erwartbar in der Wortwahl für all jene, die vorherige Brenner-Bücher kennen. Diese „Müll“-Story ist – abgesehen von den letzten Kapiteln – mit einer Trägheit erzählt, als habe sie die ebenfalls träge Hauptfigur Simon Brenner selbst notiert.
So wirkt der von zahlreichen Recyclingvarianten berichtende neunte Teil dieser Krimireihe selbst wie ein Recycling der vorherigen acht. Am Ende wird wenigstens eine bisschen Ordnung hergestellt und neu sortiert, die größte Unordnung aber ganz österreichisch so belassen, zugedeckt, vergessen – wie auch der Erzähler abschließend zugeben wird, dass er nur noch selten an jene Geschichte denkt, die er über 280 langgezogene Seiten hinweg zum Besten gegeben hat. Es ist ein Vergessen, das man dem von seiner eigenen Erzählung Unbeeindruckten nicht einmal verübeln kann.
Wolf Haas: „Müll“, Hoffmann & Campe, Hamburg, 288 Seiten, 24 Euro