Die Schriftstellerin, Übersetzerin und Verlegerin Zoë Beck hat für die Reclam-Reihe „Hundert Seiten“ ein Buch über Depression geschrieben. Wir damit das Phänomen „Mental Health“ auch intellektuell kanonisiert? (Das Beitragsbild hat Zoë Beck fotografiert.)
„Etwa jeder fünfte Erwachsene war wenigstens einmal in seinem Leben von einer Depression betroffen. Frauen erkranken doppelt so häufig daran wie Männer, ältere Menschen trifft es eher als junge“, eröffnet das gerade erschienene Depressionsbuch von Zoë Beck: „Unterschiedlichen Studien zufolge leiden aktuell ca. 5 Millionen Bundesbürger*innen an Depressionen, weltweit sind es nach Einschätzung der WHO 350 Millionen. Jährlich begehen in Deutschland rund 10000 Menschen Selbstmord, das sind mehr, als zusammengerechnet durch Verkehrsunfälle, Morde, Aids und Drogen versterben. Über die Hälfte derer, die sich das Leben nehmen, leiden an einer Depression. Dabei handelte es sich deutlich häufiger um Männer als um Frauen.“
Das Schlagwort „Mental Health“ – also psychische Gesundheit – gehört zu den herausgehobenen Themen unserer Gegenwart. Die Depression wird in dem Zuge besonders häufig genannt, da diese Erkrankung zur gesellschaftlichen Langzeitfolge der Corona-Lockdowns gezählt wird.
Nora Tschirner und Kurt Krömer
Die RBB-Fernsehsendung „Chez Krömer“, in der die beiden Entertainer Kurt Krömer und Torsten Sträter über ihre Depression sprachen, war in diesem Frühjahr ebenso ein großer Erfolg wie das öffentliche Depressionsbekenntnis von Schauspielerin Nora Tschirner. Im Stuttgarter Reclam-Verlag erscheint nun ein hundertseitiger Band, der sich mit dieser häufigsten psychischen Erkrankung unserer Zeit auseinandersetzt. Geschrieben hat ihn die Bestsellerautorin Zoë Beck, die gleich zu Beginn von einem dreizehn Jahre zurückliegenden Arztbesuch berichtet:
„Gegen Ende bekam ich nicht nur einen neuen Termin, sondern auch die Diagnose. Oder eigentlich mehrere Diagnosen. Agoraphobie (sogenannte Platzangst) mit Panikstörung. Und Depression. Sehr wahrscheinlich auch eine generalisierte Angststörung. Aber ziemlich sicher schon mal die Depression.“
Die Hiobsfrage
Als Schriftstellerin ist Zoë Beck in der Lage, eine Anschauung auf den Begriff zu bringen. Aus dieser Anstrengung ist der Depressions-Band entstanden, der privat-persönliche und öffentlich-wissenschaftliche Erkenntnisse gegenüberstellt.
„Die erste Frage, die ich mir nach der Diagnose stellte, war: ‚Warum hab ich so was?’ Ich wollte wissen, was ich falsch gemacht hatte. Und was ich in Zukunft anders machen musste. Ganz pragmatisch gedacht: Fehlerquelle eruieren, Fehler beheben, fertig.“
Selbstverständlich gibt es dieses „Fertig“ nicht. Depressionen begleiten fortan Zoë Becks Leben. Die Krankheit wird in diesem Buch nicht besiegt, sie gerinnt auch nicht zur Metapher. Aber sie wird zum Anlass für eine jahrelange Recherche. Das Zwischenergebnis der Recherche ist dieser kleine Reclam-Band, in dem Beck aus ihrem Leben mit der Depression einerseits und aus der Wissenschafts- und Literaturgeschichte andererseits berichtet.
Depression für alle
Sylvia Plath’ „Die Glasglocke“ wird ebenso konsultiert, wie das inzwischen zwanzig Jahre alte Standardwerk „Saturns Schatten. Die dunklen Welten der Depression“ von Andrew Solomon. Historische und prominente Persönlichkeiten mit Depression werden genannt – von Mark Twain über Emily Dickinson bis Stephen King und Marilyn Monroe, denn
„die Depression macht nicht vor einer großzügigen Wohnung, einer perfekten Beziehung, einem Traumjob oder einem gefüllten Konto halt. Es ist ihr egal, ob jemand Erfolg hat oder in den Augen anderer ein glücklicher Mensch sein müsste.“
Was ist sichtbar?
Mit der Short Story „Draußen“ gewann die Schriftstellerin bereits 2010 den renommierten Friedrich-Glauser-Preis, 2020 mit „Paradise City“ den Deutschen Krimipreis, in diesem Jahr für den gleichen Roman den Politkrimipreis der Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg. Es könnte interessant sein, die bislang 14 Romane und zweieinhalb Dutzend Geschichten auf Spuren von Depression und psychischer Devianz abzusuchen. Die Autorin sagt:
„Ich denke, man erkennt sicherlich Angstzustände, die Angsterkrankung, vielleicht auch gewisses Zwangs-, oder selbstverletzendes Verhalten. Die kommen nicht alle unbedingt von mir persönlich, aber diese Auseinandersetzung mit psychischen Ausnahmesituationen und mit psychischen Auffälligkeiten. Da gibt es immer wieder Figuren die ich auch über diese Eigenschaften erzähle, weil es zu uns Menschen gehört – und dadurch gehört es auch zu Figuren.“
Weiterlesen mit Johann Hari
Auf herausgehobene Weise geht Beck auf eine aktuelle Veröffentlichung des britischen Journalisten Johann Hari ein. Sein umfangreich recherchiertes, Buch „Der Welt nicht mehr verbunden. Die wahren Ursachen von Depressionen – und unerwartete Lösungen“ beeindruckt, weil er zeigt, was es bedeutet, sich abgenabelt zu fühlen von Familie, Freunden, von seiner Umwelt, wie es sich anfühlt, als Fremder durch diese Welt zu gehen.
„Ich bin von Selbsthilferatgeberliteratur wahnsinnig enttäuscht zum allergrößten Teil“, sagt Zoë Beck im Dlf, „weil es sehr viel auf dem Markt gibt, wo behauptet wird: Dies ist der Weg, um das Ganze zu überwinden.“ Eben diesen einen Weg gäbe es nicht, weil jede Depression einen anderen Verlauf zeitigt. „Schön fand ich den Johann Hari mit ‚Der Welt nicht mehr verbunden’. Da hätte ich jetzt nur den Kritikpunkt, dass er sehr negativ der Pharmaindustrie gegenübersteht. Grundsätzlich ist das natürlich nicht schlecht, aber da hatte ich das Gefühl, er verteufelt die Medikamente, die durchaus Menschen helfen können. Aber er geht sehr gut auf die gesellschaftlichen Aspekte eingeht. “
Ein Normalisierungssignal
Der Reclam-Verlag, 1828 in Leipzig gegründet, ist durch seine wohlfeilen Klassikerausgaben bekanntgeworden. Hier erscheint, was bereits ins Sediment der Kulturtradition hinabgesunken ist. Zoë Becks Hundert-Seiten-Band zeigt in seinem Wechsel aus positivem Wissen und düsterer Selbsterfahrung, dass inzwischen eine Sprache existiert, die sich der depressiven Hoffnungslosigkeit präziser nähert als Betrachtungen vergangener Jahrzehnte. Auch in diesem Sinne kann das Buch als ein Normalisierungssignal verstanden werden, dem es gelingt, düster-einsamem Grübeln das hell-eloquente Sprechen entgegenzusetzen, das allgemein verständlich ist – und in vielerlei Hinsicht hilft.
Zoë Beck: „Depression. 100 Seiten“ Reclam, Stuttgart, 100 Seiten, 10 Euro. / Johann Hari: „Der Welt nicht mehr verbunden“, aus dem Englischen von Sonja Schuhmacher, Barbara Steckhan, Gabriele Gockel, HarperCollins, Hamburg, 400 Seiten, 20 Euro.