Aus dem Sau(b)erland ins schmutzige Berlin: Der CDU-Politiker Frederik Kallenberg ist ein guter Mensch, macht sich in Markus Feldenkirchens Roman „Keine Experimente“ aber die Hände schmutzig – wegen der Liebe. Da hilft kein beichten mehr.
„Neben dem Terrorismus, der Wollust, der Frauenbewegung und dem Internet hielt er den Zynismus für eine der zersetzendsten Plagen unserer Zeit.“ Über Familienpolitiker Frederik aus Kallenberg könnte man mit dem HipHop-Label von Bushido sagen: „ersguterjunge„. Aus ebenso einfachen wie tragischen Verhältnissen kommend möchte der gläubige Katholik alles richtig machen. Vorm Schlafengehen ruft er seine Ehefrau Julia an, mit der er zwei Kinder hat, sie wünschen sich gegenseitig eine gute Nacht. Er weiß: „Ein Ziel vor Augen gibt Sinn im Leben.“ Ans Fremdgehen hat er nie gedacht. Daheim erziehenden Mamas verspricht er Müttergeld. Doch dann verliebt sich der konservative Knochen – ausgerechnet in die Asta-Feministin Liane.
Markus Feldenkirchen hat sich für den neuen Roman „Keine Experimente“ eine wirklich interessante Figur ausgedacht. Der Politikjournalist aus dem Hauptstadtbüro des Spiegel deutet bereits mit dem CDU-Wahlkampfslogan auf dem Cover an, dass hier keiner der üblichen Berlin-Mitte-Slacker auftauchen wird. „Keine Experimente“, damit hat Konrad Adenauer 1957 die Wiederwahl als Bundeskanzler erreicht. „Keine Experimente“ ist auch der Tenor von Markus Feldenkrichens aktueller Spiegel-Reportage über die Reformmüdigkeit der Bundeskanzlerin, die seiner Meinung nach darin begründet liegt, dass es keinen Grund gibt, im prosperierenden Deutschland Einsschnitte zu machen, wie sie den „Krisenländern“ Griechenland oder Spanien aufgedrückt wurden.
Frederik Kallenberg wird in eine Situation geworfen, die er mit Standhaftigkeit und Sauerländischem Trotz jahrelang umschiffen konnte. Bei einer Podiumsdiskussion lernt er Liane kennen und mit ihr ein freieres, weniger verstocktes Leben. Er wird einen Technoclub besuchen, der stark ans „Berghain“ erinnert. Er muss sich dazu verhalten, dass seine Geliebte bereits 26 Bettgefährten vor ihm gehabt hat. Er wird mit seinen Fehlern ebenso angenommen wie geführt, vor Alternativen gestellt. Derart gegensätzlich sind Liane und Frederik nicht. Sie hat ebenso wie er den teilweise stockkonservativen Dichter Theodor Fontane („Effi Briest“) gelesen. Sie tritt Frederik mit Respekt gegenüber, verliebt sich in seine Unverdorbenheit, das Fehlen jeglichen Zynismus‘, in seine konservativen Werte. Der Roman macht aus der Konstellation keine „fish out of water“-Komödie, lässt den CDU-Politiker nicht tollpatschig durch die Berliner Hipsterszene schlittern, sondern beschreibt sehr genau die inneren Kämpfe, die hier alle Figuren auszutragen haben. Niemand wird bloßgestellt.
Denn Frederik Kallenberg, dem selbst die Bundeskanzlerin zu Politiker Mäßigung anhält, ist nicht der einzige Mensch, der sich in selbstgewählten Zwängen befindet. Sein bester Freund, ein Pfarrer, hadert mit dem Zölibat und wünscht sich eigentlich eine Familie, für die er sorgen kann. Die sauerländischen Eltern haben dagegen komplett versagt. Den Vater gab es nur in den Abstufungen, betrunken, stark betrunken, vollkommen besoffen. Die Mutter war depressiv, promiskuitiv, zudem unfähig, ein Mittagessen auf den Tisch zu stellen. Sie hätten es gern anders angepackt, kamen aber nie heraus aus ihrer Haut.
Markus Feldenkirchens gelungene Politik-Liebesstory reiht sich in ein aufmerksamkeitsförderndes Literaturphänomen ein: Die Jahrestagsveröffentlichungen. Sein Roman erscheint kurz vor der Bundestagswahl am 22. September. Als sich die Entdeckung des sogenannten „Kontinentaldrifts“ dem Hunderten näherte, veröffentlichte Jo Lendle mit „Alles Land“ das dazu passende Buch. Zum Zehnjährigen der Terroranschläge gab es eine Vielzahl erfundener Geschichten, unter anderem von Friedrich von Boris („1WTC“) und Alexander Osang („Wo warst Du? Ein Septembertag in New York“). Der 150. Todestag des Philosophen Arthur Schopenhauers für Christoph Poschenrieder Anlass, seinen Schopenhauer-Roman „Die Welt ist im Kopf“ vorzustellen. 2014 jähren sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1914), die Einführung des Fließbandes bei Ford (1914), der Todestag von Kurt Cobain (1994), der Eurovisions-Sieg von ABBA (1974). Ob die Verlage schon Romane mit Titeln wie “ Franz Ferdinand“, „Modell T“, „Nevermind“ und „Waterloo“ vorbereiten?
Markus Feldenkirchen: „Keine Experimente“, Kein & Aber, 400 Seiten, 22,90 Euro
[…] Otfrid Ehrismann: „Nibelungenlied: Epoche – Werk – Wirkung“, Markus Feldenkirchen: „Keine Experimente“, Jo Lendle: „Was wir Liebe nennen“, Joel Dicker: „Die Wahrheit über den Fall Harry […]