„Wer als Pilger nach Jerusalem kommt, muss über drei wertvolle Gaben verfügen – Glaube, Geduld und Geld. Glaube, um alles, was man in und außerhalb von Jerusalem sieht, ernst zu nehmen; Geduld, um die Schmähungen der Ungläubigen zu ertragen; und Geld, um die vielen Eintrittsgelder und Gebühren, die hier und überall in der Stadt verlangt werden, bezahlen zu können.“ – Diese Empfehlung stammt nicht vom (unter anderem auch) Reiseschriftsteller Roger Willemsen, sondern von William Lithgow, einem misanthrophen Wandersmann aus Schottland, der im 17. Jahrhundert stolze 36000 Meilen zu Fuß zurückgelegt haben will. Das geschah auf drei gewaltigen Abenteuerrouten, die ihn nach Malta und in die Sahara, nach Algier, Kairo, Konstatinopel und eben auch nach Jerusalem führten, wahre Odysseen waren das, unbequem, gefährlich, viel zu heiß, ständig traf man dämliche Zeitgenossen: „Denn die Franzosen sind erstens Nachahmer, zweitens Verwerter, drittens Verführer und viertens Verbreiter unsinniger Lehren aller Art.“
Roger Willemsen hat diesen schlechtgelaunten Text entdeckt, von Georg Deggerich übersetzen und von Papan auf eine köstlich-despektierliche Art und Weise illustrieren lassen. „Die wundersamen Irrfahrten des William Lithgow“ sind die ideale Ergänzung zum freundlichen Dokumentarbuch „Bangkok Noir“, in dem Willemsen von seinen nächtlichen Ausflügen in der asiatischen Metropole berichtet – als geradezu magischen Gedankenstrom. So schön war das Reisen lange nicht: Roger Willemsen über Somerset Maugham, Sodomie und einer Begegnung im Massagesalon.
Warum reisen Sie? Ich erinnere mich an ein schönes Wort von Somerset Maugham, der gesagt hat: „Wenn ich mir meine Rastlosigkeit erklären soll, dann liegt sie daran: ich muss reisen, solange ich noch nicht jedes Zuhause gesehen habe.“ Das finde ich sehr schön. Ich suche das Dauernde im Fremden, also nicht wie der Tourist, die Sehenswürdigkeit, den Augenblick, den Moment, den Snapshot, sondern ich suche das, was an bestimmten Orten immer ist. Dort mag ich verschwinden.
Aus welchen Gründen reiste William Lithgow? William Lithgow ist ein Mann, der zum Teil vom Ressentiment befeuert wird. Ich glaube, dass man an ihm lernt, welche produktive Energie im Hass stecken kann. Also in der Fähigkeit, sich von etwas abzusetzen, sich von etwas beeinflussen zu lassen, mit dem man nicht einverstanden ist. Und dieses eigentlich von sich wegreisen, auch Dinge von sich wegzuschreiben, sich zu differenzieren von seiner Außenwelt ist etwas ganz anderes als der klassische Bildungsreisende, der immer überall identisch mit dem sein möchte, was er bereist.
Warum haben Sie als Herausgeber den Hass Lithgows zensiert? Es gibt Passagen in diesem Buch, die würden wir als im üblen Sinne antisemitisch, antimuslimisch, antipapistisch und so weiter nennen. Wir haben die nicht grundsätzlich rausgenommen, denn man muss die Tonlage schon wahren und erkennen, welche Richtung das nimmt. Man muss schon erkennen, dass bei Lithgow Animosität ein Prinzip ist, das von allem Besitz ergreift, von Frauen und Männern, von Knaben und von Tieren und von Landschaften
Gregor Gysi und Harry Rowohlt haben bei den Briefen von Marx/Engels auch die antisemtischen Stellen in ihrem Hörbuch mitgelesen… Sagen wir mal so, bei Marx und Engels handelte es sich um zwei ideologische Säulenheilige, die in jeder Hinsicht eine historisch akkurate Betrachtung verdienen und auch fordern. Bei Lithgow handelt es sich um eine Nebenfigur der Geistesgeschichte, von der man sagen kann, das was zeittypische Gesinnungshuberei an ihm ist, darf auch verschwimmen. Es sind größere Autoren als er gekürzt, oder nachbearbeitet worden und ich persönlich habe eigentlich versucht die Nachbearbeitung auf ein geringstmögliches Maß zu reduzieren. Es gab zum Beispiel Vertreter, die gesagt haben: ,Muss denn das sein?“ weil man in Deutschland speziell mit antisemitischen Äußerungen sehr vorsichtig ist – zu Recht. Auf der anderen Seite schiene mir das eine „positive discrimination“ zu sein, wenn wir ausgerechnet das rausnähmen.
Wobei ja auch die Christen ständig ihre Nonnen schwängern… Die Sodomie hat es ihm sehr angetan und man kann darin ein sehr gutes Prinzip des Pharisäers erkennen, der von dem besessen ist, was er vermeintlich hasst, das heisst er liebt es, Unzucht zu studieren. Er liebt es, Städten Sodomie zu unterstellen und dann zu beschreiben.
Wie nah sind Sie der Unzucht in Bangkok gekommen? Ich bin in Bangkok havariert, in allen verschiedenen Episoden, in denen ich versucht habe, Frauen nahe zu kommen. Ich bin im Massagesalon gewesen und habe gemerkt, ich sollte nicht massiert werden. Die Frau, die sich auf dem Badewannenrand entblößte, war schwanger. Ich bekam einen richtigen Schrecken vor den verschmolzenen Tätowierungen, die sie sich versucht hatte, mit Säure zu entfernen, vor den Selbstverstümmelungsnarben, die ich an dem Körper sah und vor dem Leben, was in dem schwangeren Bauch schon zu sehen war. Und das ist nicht nur nicht Begierde erregend, es löst irgendeine innere Regung des Erbarmens aus und die hat, glaube ich, mit Erregung in keinem Sinne zu tun und ich war auch dafür wirklich nicht in diesen Massagesalon gegangen.
Das unterscheidet sie von William Lithgow… Es gibt eine Episode, wo er mit dégoût beobachtet, wie ein Mann am Sklavenmarkt eine schöne Sklavin kauft und am nächsten Tag erkennt Lithgow, dass diese wahrscheinlich zu Liebesdiensten missbraucht worden ist und kauft sie dann seinerseits frei und an der Geschichte blendet er vor den eigenen Tugenden aus und wir sind irgendwie von der Vermutung befallen, er könne ein Ähnliches mit ihr gemacht haben. – Aber um auf Bangkok zurückzukommen: Über die vielen Jahre, in denen ich dort gewesen bin, hat es natürlich Begegnungen mit Frauen aller Art dort gegeben. Allerdings erschiene es mir heuchlerisch, das rauszustreichen – wie William Lithgow es tut.
Wie kam dieses Buch zu Ihnen? Ja es ist kurios. Es ist eine wahre Entdeckung. Ich fand einen Text von Franz Blei, einem wunderbaren Feuilletonisten der 20er Jahre. Blei schrieb ein Buch über wundersame Menschen und ihre Schicksale, unter anderem über William Lithgow. Innerhalb der englischen Reisliteratur ist Lithgow ein sehr bekannter Name – dessen Texte überraschender Weise nie ins Deutsche nie übersetzt wurden. Und dann bin ich immer wieder zu Verlagen gegangen in den letzten zehn Jahren und habe gesagt, eigentlich müsste man das machen und aus unterschiedlichen Gründen haben Verlage, weil das nicht ins Programm passte, oder weil es zu alt war, es nicht gemacht.
Jetzt erscheint es doch. Glauben Sie dass der Markt bereitet ist durch Humboldts „Kosmos“, durch Kehlmanns „Vermessung der Welt“, dass Leser empfänglicher sind für Reiseliteratur? Das Buch findet gerade seine Käufer, die sich auf diesen historischen Blick einlassen, der ja auch häufig der erste Blick ist, dass das übernommen wird. Mir fällt immer eine Episode in den Tagebüchern von Grillparzer ein,
der ein eher misanthropischer Mann war und der irgendwann einmal zum ersten Mal zum Ozean reist und wir halten den Atem an, was nicht häufig vorkommt bei Grillparzer, und denken: Wie wird ein Mann, der es nie gefilmt gesehen hat, das Meer sehen. Wie wird er das beschreiben? Und er reist ans Meer. Er steht davor. Und Grillparzer schreibt ins Tagebuch: „So hatte ich es mir nicht vorgestellt.“ Und das ist alles was wir erfahren und diese Qualität des ersten Blicks, die findet sich bei Lithgow häufig, aber in einer höheren Differenzierung und da, finde ich, ist er sehr ergiebig.
Sie schreiben, es gäbe eine Schubkraft, eine Sogkraft und der Rest ist Fahrtwind. Wie fühlt sich das an? Ich könnte mich an dieser Stelle gut neben Lithgow stellen und sagen: Es gibt immer ein Motiv, dort verschwinden zu wollen, wo man ist. Das ist die Schubkraft. Sei es ein Widerwillen gegen die Heimat, sei es, wie es bei Lithgow ist, eine traurige persönliche Episode, sei es, wie es bei mir ist, irgendwie ein Überdruss an dem, was ich zu gut kenne. Und dann gibt es einen Sog, der geht von den mythischen Orten aus und man bezeichnet ein Ziel und es lockt einen und es gehen Suggestionen von Namen wie Dakar, Havanna, Shanghai, Damaskus aus, Timbuktu, und schließlich gibt es dann die Bewegung selber, das ist der Fahrtwind, in dem man das Gefühl hat, man ist von etwas erfasst, man geht von da nach da, man verfügt über die eigene Verwandlungsgeschwindigkeit, und so etwas, und das eint die Reisenden, glaube ich.
„Die wundersamen Irrfahrten des William Lithgow“, herausgegeben von Roger Willemsen, mit Illustrationen von Papan, übersetzt von Georg Deggerich, Mare, 390 Seiten, 24 Euro, das Hörbuch, gelesen von Roger Willemsen, Lübbe // „Bankok Noir“, Roger Willemsen (Text) und Ralf Tooten (Fotos), 370 Seiten, 26,95 Euro, das Hörbuch, gelesen vom Autor, Roof Music // Das Beitragsbild ist von Wikipedia