Wenige Wochen, bevor René Pollesch gemeinsam mit Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow seine erste Oper in Berlin präsentieren wird, gibt es ein neues Theaterstück im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg: „Rocco Darsow“.
Wer nach dem Namen im Internet sucht, um eine Ahnung von Inhalt von „Rocco Darsow“ zu bekommen, wird nicht auf einen politischen Theoretiker oder einen philosophischen Buchtitel stoßen, sondern auf das Facebook-Profil eines gut aussehenden Berliner Kraftsportlers. Wer René Pollesch fragt, erfährt, dass Rocco Darsow ein Bekannter ist. „Der Name ist toll. Rocca Darsow boxt. Und das Schauspielhaus hatte in einer Spielzeit zig Stücke, die alle einen Namen im Titel hatten. Das klang gut. Das wollte ich auch. Und irgendeinen Titel muss man anderthalb Jahre vorher abgeben – so ist es dieser geworden. Aber der Abend hat nichts mit dem Leben von Rocco Darsow zu tun. Null.“
Beim Treffen in der Kantine des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, wenige Wochen vor der Uraufführung, sitzt Pollesch abseits. Der 51-Jährige hat gerade den ersten Probentag für sein neues Stück „Rocco Darsow“ beendet. Der Theatertext erstand eilig wie immer in den vergangenen drei Wochen. Uraufführung ist am 12.12. Er trägt eines seiner zehn identischen schwarzen Hemden, die einzige Jeans, die er besitzt und das legendäre, ebenfalls einzige Jackett. „Zwei Hemden sind noch eingeschweißt, für die kommenden Premieren“, sagt er – und raucht. Mehr als zwei Schachteln werden gemeinsam geleert während des wilden Gesprächs über: Grindr-Performances, die Oper mit Tocotronic-Frontmann Dirk von Lowtzow, Gier und Globalisierungskritiker, Tweets und Pop-Theater.
Warum sind Deine Stücke so kurz? Und ist alles unter einer Stunde bereits Arbeitsverweigerung? Das letzte, das wir in Stuttgart gemacht haben – „Du weißt einfach nicht, was Arbeit ist“, hat eine Länge von 1:05 Stunden. Was wir aber erst bei der Premiere gemerkt haben. Es dauerte eigentlich 1:30 oder 1:40, aber das schob sich dann so sehr zusammen. Es waren einfach so viele „Ähs“ drin, die später wegfielen, als die Schauspieler den Text besser konnten. Aber solange man über eine Stunde kommt machen die Theater das mit. Es gibt diesen ungeschriebenen Deal, dass man ansonsten Eintrittsgelder zurückgeben muss. Das hat mir Frank Baumbauer, der Intendant der Münchner Kammerspiele jedenfalls mal so gesagt.
Eine Stunde sind dann zirka 45.000 Zeichen Text? In Stuttgart hatten wir 49 Seiten. Als ich anfing, waren es nur 30 Seiten, weil wir immer diese Musikclips eingebaut haben, wie bei „www-slums 1-7“, den Theaterabenden hier im Hamburger Schauspielhaus, mit Caroline Peters, Catrin Striebeck, Stefan Merki und Bernd Moss. Da gab es acht Szenen am Abend, und davon waren schon 24 Minuten Songmaterial. Inzwischen spielen wir weniger Clips.
Wie probst Du mit den Schauspielern? Ich bringe am ersten Probentag meinen Text mit, das heißt, ich hab’ ihn ihnen vorher nicht geschickt, oder irgendjemand anderem zu lesen gegeben. Die Spieler sind die ersten die ihn bei der Probe lesen. Es geht einfach darum, alles mögliche zu vermeiden, was so aussehen könnte, als ginge es darum ein Stück Literatur ab Probenbeginn zu Theater werden zu lassen. Das, was wir heute von „Rocco Darsow“ gelesen haben, wird in wenigen Tagen schon völlig anders sein. Wir werden dann in ein vollständig anderes Manuskript gucken.
Das klingt anstrengend für die Spieler. Nein, es ist entlastend. Die Schauspieler müssen den Text nicht als etwas lesen, was sie in sechs Wochen sagen müssen. Üblicherweise bekommt man den Text zugeschickt und weiß: Ich spiele Franz. Dann schaut man sich den Text an und sieht: Ok, das bin dann ich. Das ist der Franz. Wie muss ich das nun angehen? – Es geht aber bei uns nicht darum, dass die Spieler mir zuliebe sich ein Thema oder Theorien wie ein Student etwa anzueignen, um ihn dann so zu spielen, wie ich das will. Der Text ist da, damit wir uns zusammen informieren, was steht da drin und damit die Schauspieler sich fragen: Wollen wir das überhaupt sagen? Sie überprüfen den Text und nicht der Text oder ich überprüfe die Schauspieler. Und das ist entlastend.
Du entwickelst also auch diese ellenlangen Textflächen, die dann in Deinen Stücken heruntergerissen werden, direkt mit dem Ensemble? Ja, ich bleibe nicht allein auf meinem Text sitzen. Ich fand das im Studium schon großartig, wenn man mit dem Professor und den Kommilitonen gemeinsam die „Ästhetische Theorie“ las. Deshalb sind Proben toll. Die, die Lust haben, lesen die theoretischen Sachen, um die es geht. Aber müssen sie nicht. Man unterhält sich bei den Proben über den Text oder Theorien, die damit zusammenhängen. Aber ich bin dabei nicht der paternalistische Lehrer-Regisseur-Typ, der seinen Kindern die Bücher vorlegt und sagt: Das habt ihr gefälligst zu lesen. So ein Gestus bei den Proben verlängert sich ja auch meistens in die Inszenierung und den Zuschauerraum hinein. Dann ist alles wie Schule. Peter Stein hat in den 70er und 80er Jahren riesige Bücherregale im Foyer der Schaubühne aufgestellt. Um damit zu sagen, „das hab ich alles gelesen, während ich die Orestie inszeniert habe“. Das ist natürlich autoritätsheischend.
Dein neues Stück heißt „Rocco Darsow“. Aber wer ist das? Bei Google findet man so gut wie nichts. Ein paar Treffer gibt es schon. Es gibt einen Berliner, der so heißt. Und den habe ich gebeten, seinen Namen verwenden zu dürfen. Der Name ist toll. Rocca Darsow ist ein Boxer. Und das Schauspielhaus hatte in einer Spielzeit zig Stücke, die alle einen Namen im Titel hatten. Das klang gut. Das wollte ich auch. Und irgendeinen Titel muss man anderthalb Jahre vorher abgeben – so ist es dieser geworden. Aber der Abend hat nichts mit dem Leben von Rocco Darsow zu tun. Null. Das habe ich ihm auch versprochen.
Wie kommst Du zu Deinen, oft im Theoretischen verwurzelten Themen? Es geht eigentlich nicht darum, Theorien auf die Bühne zu bringen oder sie zu dramatisieren. Es geht auch nicht darum, dass ich oder die Schauspieler sich Theorien aneignen weil man denkt, das steht gerade auf der Tagesordnung. Sondern es geht um eine Alltagstauglichkeit von Theorie. Dass man mit ihr einen schärferen Blick auf die Wirklichkeit werfen kann. Ein Zuschauer hat mich zum Beispiel auf die Biologin Donna Haraway aufmerksam gemacht, die mir mein Unwohlsein erklären kann, wenn in einem Stück steht: „Ein Mann kommt auf die Bühne“ – und der ist dann automatisch weiß und heterosexuell.
Diesen Gedanken schreibt auch Philosoph Slavoj Žižek in seinem grandios unterhaltsamen Band: „Lacan – Eine Einführung“ (S. Fischer, 11,95 Euro), einem der vermutlich wichtigsten Bücher zum Verständnis aktueller Stücke von René Pollesch. In diesem gerade mal 170-seitigen Buch stehen Sachen wie: „In der akademischen Welt gibt es eine höfliche Art, mitzuteilen, daß wir den Einwurf oder den Vortrag eines Kollegen für blödsinnig oder langweilig halten, indem wir sagen: ‚Das war interessant.‘ Wenn wir daher unserem Kollegen offen sagen, ‚das war blöd und langweilig‘, ist er völlig berechtigt, überrascht zu sein und zu fragen: ‚Aber wenn du es blöd und langweilig gefunden hast, warum hast du nicht einfach gesagt, daß es interessant ist?‘“
Warum entsteht bei dieser Vorstellung ein Unwohlsein? Dieser heterosexuelle weiße Mann soll immer der sein, der für alle spricht. Das Publikum ist dann auch gewillt, die Geschichte auf der Bühne als seine eigene Geschichte zu lesen. Aber wenn man als Nicht-Heterosexueller „Romeo und Julia“ sieht, dann ist das niemals die eigene Geschichte. Oder sie ist es vielmehr und gleichzeitig eben nicht. Das ist der Trick. Damit beschäftigt sich Donna Haraway. Es geht dann aber nicht darum, Donna Haraway auf die Bühne zu bringen. Sondern mit ihren Texten kann ich mir genauer dieses Problem ansehen, dass es diese Kategorisierungen gibt, auf einer leeren Bühne, auf einem weißen Blatt Papier, etwas Unausgesprochenes, das immer mitspricht.
Die Theorien, die Du verwendest, müssen also mit Deinem Leben zu tun haben? Ja. Als Student geht man mit theoretischen Texten um, weil sie auf dem Plan stehen. Das ist dann wie ein Chip – Foucault oder Adorno – den man sich reinsteckt. Den man aber nicht im Alltag zur Verfügung hat. So dass einem jemand zwar den Inhalt der „Negativen Dialektik“ erklären kann, aber trotzdem als Mann noch so Sachen sagt wie: „Die Frauen sind mir ein Rätsel!“ Aber zu denken: „Wir müssen Donna Haraway auf die Bühne bringen“, das ist nicht der Plan.
Der Anfang, das war 1999 „Heidi Hoh“, die „www-slums“ und eben „Stadt als Beute“ – das bereits den sehr theoretischen Titel eines soziologischen Sachbuchs trägt. Da ist mir tatsächlich zunächst nur der Titel ins Auge gesprungen. Ich hatte damals eine erste kleine Spielstätte in Berlin und dachte: Das macht sich gut überm Theater. So ein Titel. Dann ist leider der 11. September passiert. Drei Wochen später hatten wir Premiere. Da mussten wir klarmachen, dass mit „Stadt als Beute“ Berlin gemeint ist und nicht New York. Es ging um Stadtpolitik. Aber der Gedanke war nicht, ein soziologisches Sachbuch auf die Bühne zu bringen. Sondern das theoretische Werkzeug der Autoren.
Hatte das Stück noch viel mit dem Buch zu tun? Einer der Autoren des Buchs hatte in einem anderen Text davon berichtet, dass in „Stadt als Beute“ seiner Meinung nach die Perspektive auf die Subjekte nicht ausreichend berücksichtigt worden ist – das habe ich dann als einen Auftrag an mich verstanden. Also niemand hat ihn mir tatsächlich gegeben, aber das eben machten wir dann. Die Schauspieler haben sich auf der Bühne zum Beispiel als Areale angesprochen, die umgenutzt werden. Ein paar Zuschauer dachten, wir würden einen Soziologenjargon benutzen, uns darüber lustig machen, was gar nicht stimmte, wir haben es todernst genommen. Das Buch interessierte uns nur da wo es mit uns zu tun hatte. Darum ging es.
Worum geht es in „Rocco Darsow“? – Die Pressestelle des Schauspielhauses teilte mir lapidar mit: „Wir wissen es selber nicht“. Man kann es zu diesem jetzigen Zeitpunkt tatsächlich nicht sagen. Heute war erster Probentag. Und ich bringe Sachen mit, die mich gerade interessieren, die ich gehört oder mitbekommen habe. Zum Beispiel habe ich in Berlin von zwei Performances gehört, die mich interessierten. Einmal Dries Verhoeven mit seiner Grindr-Performance, dann Mischa Badasyan, dessen Konzept es ist, ein Jahr lang täglich mit einem anderen Mann Sex zu haben, über einschlägige Internetportale wie GayRomeo.
Diskutiert wurden beide – bei Dries Verhoeven war der Aufschrei deshalb groß, weil ihm das Publikum live beim Chatten mit anderen Männern zusehen konnte – nur wussten seine Chatpartner nichts davon. Was ich nun bemerkenswert fand: Den beiden Performancekünstlern ging es unter anderem um eine Kritik an Berlin als kalter Sex-Metropole, verbunden mit der Frage: „Warum investieren wir nicht in Vertrauen?“ Ich fand das merkwürdig, weil es beim Vertrauen um Glaubwürdigkeit geht, um Kredit, also Sachen, die in den Augen des anderen sitzen, die in ihm vermutet werden. Also dahinter. Das hat aber nichts mit Performance zu tun, sondern eher mit zwei Protestanten, die voreinander hocken und vor allem mit Innerlichkeit beschäftigt sind.
Hat Sex nicht auch mit Vertrauen zu tun? Sex hat vor allem auch viel mit Cruising zu tun. Man treibt sich rum. Man fährt los. Man versucht, sympathisch zu sein oder sich gut zu stylen. Sex hat also viel eher etwas mit einer Performance zu tun. Mit Dries Verhoeven und Mischa Badasyan verlassen also ausgerechnet Performancekünstler ihr Kerngeschäft, weil sie denken, sie müssten eine kritische Haltung einnehmen gegenüber einer kalten Stadt wie Berlin. Und sie müßten sich in Situationen verwickeln, die sie hassen.
Säße bei der Uraufführung nicht der dubiose Ex-Piratenpartei-Vorsitzende Lauer, der unlängst für ein taz-Interview Geld haben wollte (als gewählter Volksvertreter) twitternd in erster Reihe, würde man bei diesem omnipräsenten Totenkopf vielleicht an Damien Hirsts’ 75 Millionen Euro-Diamantenschädel denken oder an ein gigantisches Memento Mori. Doch weil bereits im Programmheft der Text „Aufstieg und Niedergang der Piratenpartei“ von Lauer und Sascha Lobo empfohlen wird ist trotz der eher assoziativen, prost-dramatischen Handlung klar: Hier geht es ums Internet, um Simulakren und andere Realitätsverdoppelungen.
Was genau hat Dich gestört? Eigentlich muss man um die Körper kämpfen, und um deren Rechte. Aber stattdessen wird hier ganz protestantisch der Geist, das Vertrauen über den Körper gestellt. Der Philosoph Louis Althusser hat gesagt: „Knie nieder, falte die Hände und bewege die Lippen, als ob Du betest, und dann glaubst du.“ Da geht es um den Körper, und darum, dass nicht verkannt wird, dass er bei der Sache ist. Da vermutet Althusser den Glauben, die Wahrheit in dem Körper, der involviert ist.
Genau das taucht also auf in „Rocco Darsow“? Was wir probieren darzustellen ist: „Vertrauen ist kalt und Sex ist warm.“ Doch dann gibt es immer die Gefahr, dass der Zuschauer sagt: „Ah, ja. Vertrauen ist warm und Sex ist kalt.“ – Ich habe mal den Titel für ein Theaterstück gehabt: „Liebe ist kälter als das Kapital“. Die meisten hören trotzdem: „Liebe ist warm, das Kapital ist kalt.“ – es gibt immer einen Konsensbereich, der von Dries Verhoeven und Mischa Badasyan direkt bedient wird.
Auf der Bühne steht später dieser Darth-Vader-Schädel im Kontrast zu einer verspielten Schlaraffenland-Torte, mit Schaumgummi-Hundekopf und anderem Kitsch-Zuckerwerk. Hier agieren, debattieren, rufen, küssen und flirten 70 Minuten lang Bettina Stucky, Christoph Luser, Martin Wuttke und die Japanerin Sachiko Hara über Liebe in Zeiten des Google-Geschäftsberichts und Slavoj Žižeks „Lacan“-Thesen, über das reale Theatermachen und seine virtuelle Verdopplung. Deshalb gibt es im Hintergrund auch zwei Leinwände. „Rocco Darsow“, diese von Wuttke grandios verkörperte Figur eines fiktiven Synchronstudio-Besitzers, ist doppelt da. Zum Beinahe-Anfassen auf der Bühne und als live abgefilmte Leinwandfigur.
Bist Du tatsächlich Feminist? Das habe ich tatsächlich vor zehn Jahren in einem Interview gesagt. Im Moment denke ich, ich habe nicht das Recht dazu. Ein Schwuler will sich ja auch nicht von Heten angeblich „berührende Romane über Schwule“ empfehlen lassen. Mir kommt das auch komisch vor, wenn heterosexuelle Fürsprecher Artikel über die zunehmende Gewalt gegen Schwule schreiben. Man fühlt sich da eigentlich nur als Opfer markiert. Ich lese da eigentlich immer nur, es gibt einen guten Grund Angst zu haben
Gibt es noch echte Homophobie? Man kann sagen: Die Homophoben haben sich entlastet von der Homophobie. Das ist ja auch stressig. Als Homophober wird man ja ständig angefeindet. Aber die Struktur, in der sie arbeiten, ist eben total homophob. Und an die kann man das delegieren. Das kannst du übertragen; Schwule, Schwarze, Frauen. Du kannst eine Frau einmal in zehn Jahren als Hamlet besetzen. Eine Theaterregisseurin hat mal „Clavigo“ von Goethe nur mit Frauen besetzt. Die Kritiken haben sich überschlagen, die waren begeistert. Dann hat sie ein halbes Jahr später „Egmont“ gemacht, wieder nur mit Frauen, da haben alle geschrieben: „Die macht immer dasselbe.“ Der Punkt ist aber: Sie macht nicht dasselbe. Sie macht etwas anders und dann macht sie es nochmal anders und nochmal. Alle anderen machen immer dasselbe. Aber es fällt ihnen nicht auf. Sie besetzen „Hamlet“ mit einem Mann, „Clavigo“ mit einem Mann – das ist deren blinder Fleck. Das sitzt die Macht. Denn wiederholtes Handeln ist Macht
Ist das dann auch eine Erklärung dafür, dass Deinen Stücken oft vorgeworfen wird, sie wiederholten stets das Gleiche? Ich weiß wirklich nicht, was damit gemeint sein kann. Ich arbeite ständig mit anderen Leuten. Dadurch entsteht auch jedes Mal etwas anderes. Ich komme nicht ans Theater, bringe mein Rezept mit und mache das dann mit denen und mit denen und mit denen. Das ist nicht unsere Praxis.
Der Philosoph Boris Groys hat 1992 mit „Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie“ (Hanser, 19,90 Euro) beschrieben, wie der Kreativmarkt das Neue definiert, honoriert und einfordert. Neu ist demnach nicht, was für das jeweilige subjektive Empfinden neu ist (wessen Musik 2014 nach „Let it be“ klingt macht auch dann nichts Neues, wenn er noch nie von den Beatles gehört hat), sondern neu ist alles, was in Bezug auf das kulturelle Archiv neu ist, in das es sich einschreibt (auch wenn es seit 1834 öffentliche Pissoirs gibt, war es etwas Neues, als Marcel Duchamp 1917 ein Pissoir umdrehte, in einer Galerie ausstellte und es „Fountain“ nannte). Schriftstellerin Felicitas Hoppe, die 2012 den Georg-Büchner-Preis verliehen bekam sagte auf einer Lesung in Wuppertal: „Der Zwang zur Originalität ist der Tod jeder Kunst.“
Im Januar wird Deine Oper in Berlin aufgeführt, die Du mit Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow geschrieben hast. Wie kam es dazu? Schon vor fünf Jahren wurde ich von dem Intendanten der Komischen Oper gefragt, ob ich eine Oper machen will. Inzwischen ist das ganze Projekt an die Volksbühne gewandert. Ich sollte mir damals einen Komponisten suchen.
Du hast Dirk von Lowtzow 2010 bei dem „Durch die Nacht“-Dreh von arte getroffen. Das war unser erstes langes Treffen. Der Dreh dauerte acht Stunden. Zuvor hatten wir uns immer mal wieder kurz getroffen. Ich hatte einen Song von Tocotronic verwendet. „Let there be rock“, in meiner ersten Sache „Stadt als Beute“. Er kam immer wieder. Es hat ihm gefallen. Irgendwann habe ich ihn gefragt. Dirk hat die Songs vor einem Jahr komponiert, was für ihn üblich ist. Meinen Anteil an der Oper schreibe ich erst, wenn wir anfangen zu probieren.
Das heißt, da ist bislang gar nichts da? Doch, die Songs, die sind da. Aber den Text zwischen den Songs gibt es noch nicht.
Worum geht es in den Songs? Kann man die schon hören, auf der Tocotronic-Tour möglicherweise? Auf der Tour nicht, nein. Dirk hat sie einmal in meiner Küche vorgespielt, mir und Martin Wuttke und Lilith Stangenberg, den beiden Schauspielern, die sie singen werden.
Du hast keine CD zu Hause? Keine Songs auf dem iPod? Keine Story? Keinen Text! Es geht doch bald los. Erstmal geht es hier los, in Hamburg, mit „Rocco Darsow“, mit einem Text, den ich in den vergangenen drei Wochen hergestellt habe.
Vor René Pollesch steht immer noch der halbgetrunkene Kaffee, den er in den vergangenen drei Stunden unangetastet gelassen hat. Er trinkt Mineralwasser, lässt sich nicht zum Sekt hinreißen, schlägt auch das Abendessen aus, möchte nur eines: rauchen und reden – und beides kann er verdammt gut. Manchmal reicht eine Frage und René Pollesch redet zehn Minuten am Stück, von Thema zu Thema, von Gedanke zu Gedanke springend, während er Marlboro-Zigaretten anzündet, raucht und raucht, dann in seiner kleinen Reisetasche nach neuen Zigaretten schaut. Eine Dame aus der Kantine wechselt regelmäßig unseren Aschenbecher.
Wir leben in einer Zeit der Euro- und Bankenkrise. In einer Zeit von ISIS und Umweltkatastrophen. Warum sagst Du dennoch, wie kürzlich in einem Interview: „Die ganz großen Themen sind weg“? Das bezieht sich nur aufs Theater – und es gibt natürlich neue große Themen. Das Burgtheater wurde vor zwei Jahren gefragt, die Sonntagsausgabe einer großen österreichischen Sonntagszeitung zu machen. Es sollte um die großen Themen geben: Hass, Tod, Liebe, Gier. Bei Gier kam der damalige Intendant Matthias Hartmann auf mich, aufgrund so Zuschreibungen wie Kapitalismuskritiker, Globalisierungskritiker, Kapitalismuskritiker. Ich hab’ dann nicht über Gier sondern über Kreativität geschrieben. Dazu habe ich dann sogar einen ganzen Theaterabend gemacht. Denn: Nichts fordert uns auf, gierig zu sein. Das muss niemand sein. Damit will man sich nicht schmücken. Gierige Leute werden gehasst. Was aber von uns, was auch von den Theaterzuschauern gefordert wird ist: kreativ zu sein. Im Publikum sitzen mittlerweile sowieso andere Kreative, Schauspielschüler, angehende Regisseure, also eben nicht die Arbeiter oder die gierigen Banker – das stimmt alles nicht. Die Kreativen im Zuschauerraum vermissen absurderweise aber keine relevanten Erzählungen über Kreativität. Trotzdem haben sie eine von mir bekommen.
Die wollen weiterhin ein Drama über die vermeintlich großen Themen? Über Liebe, Tod, Hass – und über Gier. Als das große Thema. Eigentlich sind die kleinen Themen nun die wirklich großen. ich habe mich schon vor zehn Jahren mit dem Thema beschäftigt. Dann kommen Bücher wie „Kreation und Depression“ von Christoph Menke und Juliane Rebentisch (2011) oder „Die Erfindung der Kreativität“ von Andreas Reckwitz (2012) und damit wird signalisiert: Dass das keine Mode ist. Aber die Theater haben das Gefühl: Diese ganzen neuen großen Themen sind noch nicht geronnen, die sind zu flüchtig. Das ist das Hauptargument.
Das heißt: besser ein Stück über Kreativität als eines über die Finanzkrise? Das Problem an der Kapitalismuskritik im Theater ist dass sie weiterhin auf sowas wie Gier zielt. Am Ende sind dann fünf gierige Banker für die Finanzkrise verantwortlich. Und so eine Kapitalismuskritik ist strukturell antisemitisch. An viele Theatern rennen sie mit roten Fahnen über die Bühne und schreien: „Occupy!“ und solidarisieren sich mit allem Möglichen. Aber wenn man bei dem vermeintlich großen Thema „Gier“ stehen bleibt, kann das eigentliche Thema nicht bearbeitet werden. Ich kenne niemanden, der gierig ist. Die sind alle kreativ.
Du bedienst den Twitteraccount @renepollesch. Wie kommt es zu Tweets der Art: „Tchibo ist unser Pepsi“? Das ist völlig unsortiert. Man sitzt beisammen, mir oder jemand anderem fällt was Witziges ein. Das schreibe ich da rein. Aber ich poste zum Beispiel nicht, dass wir ein Gastspiel in Madrid haben. Es ist nicht einmal sicher, dass ich das bin. So soll es bleiben. Ich brauche keine Fanbase wie ein Hollywood-Schauspieler.
Warum spielen Gegenwart und Pop bei Dir eine derart große Rolle? Vielleicht spielt Pop als Musik und auf der Rezeptionsebene eine Rolle – ob das für mich im Gesamten gilt weiß ich nicht einmal. Diedrich Diederichsen hat vor einiger Zeit geschrieben, dass es eine Popmusik gibt, die ohne Rezeption nicht auskommt. Da geht es nicht nur um das Lied, sondern auch um das Cover, die Kleidung, die Fotos, welches Bild im Zuhörer entsteht. Mein Zugang ist auch weit von dem entfernt, was das Theater an Vorstellung in einem auslösen möchte. Ich sehe das alles ganz kritisch und orientiere mich vielleicht deshalb eher in eine Richtung, die Pop ist. Immerhin hat es Pop, mit Diederichsen gesprochen, geschafft, dass unsere größten Stars schwul, schwarz und weiblich sind. Mit all den Leuten die beim Theater arbeiten habe ich nichts am Hut. Ich mache etwas völlig anderes.
Weil das Theater oft nicht in der Gegenwart steht? Das Theater bringt nichts, wenn da Leute sitzen, die sich ein Stück ansehen, das 400 Jahre alt ist. Da gibt es immer diese historische Differenz. Das hat dann nichts mit den Leuten zu tun. Bei uns ist das anders. Die Kritiker, die zur Premiere kommen, kennen den Text nicht. Den bekommen die mit der Eintrittskarte in die Hand gedrückt. Das ist alles unmittelbar. Es geht auch nicht darum, Literatur auf die Bühne zu bringen. Bei mir ist nichts ausgepinselt. Ausgepinselte Stücke sind öde bis zum Gehtnichtmehr. Das liest sich toll, funktioniert aber nicht auf der Bühne.
Deshalb streiten die Figuren hier im typischen Pollesch-Diskussionsstil über den Wert von Liebe und mal wieder auch, welche monströse Gewalt dem anderen angetan wird, wenn man ihm sagt: „Ich liebe Dich“, weil einen diese Offenbarung nur umhauen kann, weil man zum Liebenden gemacht wird, um dann vielleicht schon zwei Wochen später zu hören, man liebte den anderen nicht mehr, was ihn erneut umhauen würde. Oder man sagt es nicht, und dann endet es vielleicht so wie mit Google und seinen Nutzern, was Martin Wuttke in einem kraftvollen Schlußmonolog mit den Worten zusammenfasst: „Weißt du, ich möchte dich so sehr verlassen, wie die Leute Google verlassen könnten. Aber sie tun es nicht und ich auch nicht. Ich würde es gern tun, und ich könnte es auch, und mit Google wäre es dasselbe… der Geschäftsbericht über Google ist deshalb auch höchstgefährlich, weil er sagt, dass da nichts ist was die Kunden wirklich bindet. Und mit dir, da ist es so, ich weiß auch nicht, was mich an dich bindet…“ Den Zuschauern dagegen war beim überwältigen Applaus wieder klar, was sie an René Pollesch bindet, an diesem Mann, der seit 15 Jahren ein Gesellschafts-Update nach dem nächsten auf die Bühne bringt.
Das Interview ist zuerst erschienen im Rolling Stone, Ausgabe Februar 2015